MOTORAMA, 28.05.2014, Dieselstraße, Esslingen

MOTORAMA, 28.05.2014, Dieselstraße, Esslingen

Foto: X-tof Hoyer

Ihr kennt dieses halblustige Party-Spielchen: der Kandidat bekommt einen Begriff, den die Runde erraten muss, bösartigerweise bekommt er dazu eine Liste von Worten, die er nicht benutzen darf. Unser heutiger Begriff: Motorama. Die verbotenen Worte: Joy Division, Kult-Band, finster, ekstatisch, wortkarg. Und los geht’s.

Bisher hatte ich den Veranstaltungsort Dieselstraße nicht unbedingt auf dem Radar, wenn es um zeitgemäßen Indie-Sound geht. Frauendisco, Jazz und Kleinkunst waren schon eher die Assoziationen und rückten den Laden am Rande Esslingens auch an den Rand meines musikalischen Interesses. Mit dem Young River Festival sollte sich dies aber flugs ändern. Mit Motorama, Solander und Fenster wurden nämlich absolut geschmacks- und trendsicher drei Top-Acts gebucht. Luca Gillian, Veranstalter und Musiker bei Die Selektion schickt sich jedenfalls an, in der Dieselstraße eine neue Farbe auf die Palette zu bringen. Am heutigen Abend ist dies übrigens schwarz. Ein Großteil des Publikums, das den lauen Frühsommerabend vor dem Kulturzentrum genießt, trägt: schwarz. Der Laden selbst ist übrigens ein schicker, moderner Veranstaltungsbau, dem zwar – der Manufaktur und dem franz.K nicht unähnlich – etwas die Patina und Atmosphäre fehlt, dies aber locker durch Professionalität und perfekte Technik wieder gut macht. Immer häufiger müssen wir als Stuttgarter neidisch über die Stadtgrenzen hinaus schauen.

LEVIN GOES LIGHTLY, 28.05.2014, Dieselstraße, Esslingen

Foto: X-tof Hoyer

Gerade noch haben wir im Foyer die Ausstellung des Fotografen Kai Fischer angeschaut, da sehen wir auf dem Flat-Screen an der Theke (ob’s auch einen auf der Toilette gibt?), dass Levin Goes Lightly die Bühne betreten hat. Der Saal ist ganz ordentlich gefüllt und kommt mit Unmassen schwarzen Molton-Stoffs, einem Wald von Lichttraversen und Massen von Scheinwerfern extrem profimäßig daher.

Levin geht’s allerdings gar nicht gut. Er hat eine Grippe, kämpft sich aber wacker im gleißenden Scheinwerfer-Licht durchs Programm. Er schwitzt und leidet. Und wir leiden mit. Nicht wegen seiner Musik, die ist minimalistisch, entrückt und melancholisch wie immer. Aber der Kerl gehört eigentlich ins Bett und nicht auf die Bühne. Blöd nur, dass sein Auftritt auch noch richtig gut ankommt und er sogar nochmal zu einer Zugabe auf die Bühne muss.

MOTORAMA, 28.05.2014, Dieselstraße, Esslingen

Foto: X-tof Hoyer

Nach einem kurzen Umbau, bei dem man leider die Verkabelung der Effektgeräte vergessen hat, kommen dann Motorama auf die Bühne. Und ich bin sehr gespannt. Kann ich heute ergründen, warum diese Band eine solch kultische Verehrung genießt, obwohl sie doch musikalisch nicht gerade die tiefen Teller erfunden hat und letztlich doch alles irgendwie ähnlich klingt? Und warum ihre Alben trotzdem (oder gerade deshalb) tagaus tagein bei mir in Heavy Rotation laufen?

Rein musikalisch wirken Motorama jedenfalls britischer als die meisten Indie-Bands von der Insel. Sie kommen aber aus Rostow-am-Don, einer Millionenstadt im Süden Russlands.

Frontmann Vlad Parschin ist sehr verschlossen, schon fast ein wenig unheimlich. Die Kombination aus raspelkurzem Armee-Schnitt, kragenlosen Hemd, Kassengestell und sockenlosen Slippers ist zudem auch ziemlich nerdig. Auch der Rest der Band ist – bis auf die Bassistin Irene Parschina – eher unauffällig, und scheinbar ohne jede Gefühlsregung. Starre Blicke ins Publikum, kein Lächeln, nichts. Ganz unspektakulär beginnt der Gig. Es ist federleichter Indie-Pop, der – vom ersten Ton an in ausgezeichneter Tonqualität – zum Wippen und Tanzen einlädt. Lediglich Parschins Stimme ist zu schwach abgemischt, so dass die Titel doch eher einen instrumentalen Schwerpunkt bekommen. Es ist eine ganz eigene Mischung aus melancholischem Grundton mit fröhlichen Gitarrenakzenten, die den besonderen Reiz von Motoramas Sound ausmacht. Vergleiche mit der stilprägenden Band aus Manchester (deren Namen ich hier nicht erwähnen kann), mit den Editors oder Interpol ziehen zu kurz. Es ist diese besondere Leichtigkeit, die diese anderen Bands nicht haben und die die Motorama-Titel so leicht konsumierbar und alltagstauglich machen.

MOTORAMA, 28.05.2014, Dieselstraße, Esslingen

Foto: X-tof Hoyer

Das Konzert jedenfalls geht locker voran, alle Musiker spielen dosiert und äußerst exakt, Ansprache ans Publikum gibt es praktisch keine. Die raffiniert gegeneinander gesetzten Gitarren haben manchmal schon fast eine lateinamerikanische oder afropop-mäßige Lebendigkeit. Manche Zuschauer genießen den Musikstrom mit geschlossenen Augen, als zum ersten Mal unvermittelt ein wilder Ausbruch gemeinsamen Krachs die Idylle zerstört. Alle springen in eckigen Bewegungen auf der Bühne herum, Parschin drischt mit dem Mikro-Kabel auf das Schlagzeug ein und Parschina, die eben noch ihren treibenden Bass mit dem dezenten Hüftschwung von Tina Weymouth unterlegt hat, wandelt sich in eine Berserkerin mit fliegenden Haaren. Nach wenigen Minuten ist das Inferno vorbei, die Band fällt zurück in den lockeren Sound, als wenn nichts gewesen wäre.

Ganz klar: dies ist das Markenzeichen und das Faszinierende an Motorama. Unter der freundlichen Oberfläche lauert der Wahnsinn. Dies wiederholt sich noch einige Male im Laufe des Abends und erinnert immer wieder daran: nichts ist, wie es auf den ersten Blick aussieht, jeder hat eine dunkle Seite, die nur mühsam unter Kontrolle gehalten werden kann. Nerdiges Detail: kurz vor dem Ausbruch nimmt Parschin seine Brille ab, legt sie fein säuberlich zusammen und bringt sie auf einem Verstärker in Sicherheit.

Ein wahrhaft grandioser Start für ein vielversprechendes Festival. Und ganz zum Schluss schenkt uns Irene Parschina sogar ein winziges Lächeln…

MOTORAMA, 28.05.2014, Dieselstraße, Esslingen

Foto: X-tof Hoyer

Motorama

Levin Goes Lightly

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