IRIE RÉVOLTÉS, 27.09.2013, LKA, Stuttgart
Keine Ahnung, ob sich Irie Révoltés und Rainer von Vielen kennen, aber wenn es einen Satz gibt, mit dem man das Phänomen Irie Révoltés perfekt beschreiben kann, dann ist es Von Vielens Textzeile „Tanz deine Revolution“. Maximal intensive Tanzmusik vom Typ Alternative-Reggae-Raggamuffin-Dancehall-Ska-Punk-HipHop, kritische Texte zu gesellschaftlichen Themen und echtes soziales Engagement. Das sind Irie Révoltés.
Bereits seit 13 Jahren gibt es die Band aus Heidelberg um die Brüder Carlito und Mal Élevé. Wer sie einmal live erlebt hat, ist beim nächsten Konzert garantiert dabei. Wenn also der letzte Gig in Stuttgart 2011 bereits ausverkauft war, ist es nur logisch, dass es auch dieses Mal ein volles Haus gibt. Schon um halbacht laufen wir deshalb ein, schließlich wollen wir gute Plätze bekommen – und sich im gefüllten LKA nach vorne kämpfen zu müssen, ist eine unangenehme Aufgabe. Eine imposante Schlange hat sich vor dem Laden gebildet. Ein buntes Völkchen: Punks mit beeindruckenden Iros, fusslige Dreadlocks, adrette Mädels im kleinen Schwarzen, HipHopper und Links-Alternative mit den üblichen Insignien ihrer Gesinnung. Ein guter Teil davon deutlich U18. Das erklärt wohl auch, warum wir trotz des Andrangs mühelos einen Parkplatz gefunden haben. Neben einigen begleitenden Eltern sind natürlich auch ein paar in Ehren ergraute Gig-Veteranen dabei. Nicht nur wir, auch der Betreiber von Stuttgarts feinstem Konzertkalender hebt den Altersschnitt ein wenig.
Der Abend eröffnen Guaia Guaia. Glücklicherweise kann der Fotograf meine Bildungslücke schließen: die zwei Straßenmusiker sind beim Bundesvision Song Contest für Mecklenburg-Vorpommern angetreten und haben den letzten Platz errungen. Keine Ahnung, ob man das nun als Empfehlung ansehen kann, jedenfalls ist die Besetzung bemerkenswert: ein Computer, eine Gitarre, eine Posaune. Und die drei machen mächtig Alarm. Irgendwo zwischen Elektro und Trash, zwischen Agitation und Dada. Der Sänger hat einen ähnlichen hohen Prollfaktor wie Dendemann. Dem Publikum scheint’s zu gefallen, wenn auch bei den letzten Titeln die Gitarre komplett ausgefallen ist.
Mit „Antifaschist“, einem Ihrer programmatischen Titel, eröffnen Irie Révoltés ihr Set. Eine schöne Überraschung, wo sie diesen Publikumsfavoriten doch sonst meist erst in der Zugabe spielen. Der Effekt: Die Menge ist aus dem Stand auf Vollgas, der komplette Titel wird mitgesungen. Der ganze Laden springt, zum ersten Mal spüren wir den Beton-Boden des LKA beben. Eine Stimmung, die andere Bands bestenfalls gegen Ende des Gigs erreichen. Und klar: wer so beginnt, wird noch eine Schippe drauflegen.
Als Carlito nach fünf Titeln ankündigt, das würde jetzt noch zwei Stunden so weitergehen, müssen wir um die Kondition der aus Rand und Band geratenen Menge fürchten. (Die Zeitprognose werden sie dann übrigens wirklich wahrmachen.)
Der Bühnenaufbau ist minimal. Die einzigen fixen Installationen, Schlagzeug und Keyboard sind an den Rand gerückt, in der Mitte ein großer Freiraum und dahinter die Installation aus Leuchtbuchstaben: „ALLEZ“, der Titel ihres aktuellen Albums. Nicht nur das Publikum, auch die Band ist ständig komplett in Bewegung, die jeweils aktiven Musiker springen an die Bühnenkante, manchmal mit einstudierter Choreografie aber meist in wilder ungeordneter Bewegung. Und so schaukelt sich der Gig zu einer Euphorie auf, die sich schon nach wenigen Titeln bis in die letzten Reihen ausbreitet.
Zwischen den Tracks, die übrigens meist aus deutschen und französischen Textpassagen bestehen (und selbst letztere werden komplett mitgesungen, hier bekommt des Schulfranzösisch endlich einen Sinn), berichten die Iries, was sie so umtreibt. Sei es die Solidarisierung mit Flüchtlingen, die gegen die Residenzpflicht protestieren, sei es ihr Einsatz für sauberes Trinkwasser als großer Unterstützer von Viva con Agua oder auch die Aktion „Rollis für Afrika„. Irie Révoltés reden nicht nur von Engagement, sie leben es. Und das ist es, was ihre Fangemeinde so schätzt, und was ihr Publikum von dem anderer Reggae-Bands so deutlich unterscheidet. (Auf dem Chiemsee Reggae Summer trafen wir sie an ihrem Infostand zur Aktion „Make Some Noise„. Den hatten sie dem Veranstalter als Bedingung für Ihre Teilnahme abgetrotzt. Und dort informierten sie höchstpersönlich über ihre Aktion gegen Schwulenhass und Sexismus im Reggae, Raggamuffin und Dancehall.) Natürlich gibt es auch einfach schöne Gute-Laune-Titel wie „Merci“ oder „Au Soleil“, aber die überwiegende Mehrheit beschwört ihre Idee eines „Mouvement Mondial“.
Ein überraschender Moment ist, als eine Zuschauerin die Bühne betritt, der Band ein Album mit Widmungen des Publikums schenkt und mit ihrer Ukulele eine A-Capella-Nummer mit den Brüdern anstimmt. In der Zugabe wird dann mit „Tes Yeux“, „Ma Voix“ und der Antiglobalisierungshymne „Aufstehn“ nochmal ein Salve älterer Titel abgeschossen, bevor mit „Résisdance“, das mit Spuren von Elektroswing eine neue Farbe auf die Palette bringt, vermutlich ihr nächster Hit vom neuen Album platziert wird.