ROTFRONT, 16.03.2013, Landesmuseum Württemberg, Stuttgart

Rotfront Lange Nacht der Museen

Foto: Dominic Pencz

„Unsere nächste Landesausstellung ist über die Zarenfamilie Romanow. Lasst uns zur Langen Nacht der Museen was ganz pfiffiges machen. Laden wir uns eine russische Band ein.“ So oder ähnlich muss ein kreativer Kopf beim Landesmuseum Württemberg gedacht haben. Und das war eine verdammt gute Idee. Mit Rotfront hat man nämlich gleich die wohl bekannteste und beste Band aus dem Genre „Balkan Beats“ gebucht. Und diese dann mit der Programmgestaltung auch gleich heftig eingespannt: um dem dauernd einströmenden Publikum der Museumsnacht über den ganzen Abend etwas bieten zu können, durfte die neunköpfige Band nämlich im Stundentakt vier Sets zu jeweils vierzig Minuten spielen.

„Das längste Konzert des Jahres“, wie es von Rotfront auf ihrer Facebook-Seite angekündigt wurde, war dann tatsächlich auch ein solches. Die Playlist zeigt es: Die Kapelle hat sich nicht darauf beschränkt, viermal ein Set ihrer Hits zu spielen, sondern sie haben tatsächlich ein durchgängiges Konzert mit sage und schreibe vierunddreißig Titeln auf diese vier Viertel verteilt. Für die anwesenden Fans ein opulentes Vier-Gänge-Menü, für die durchmarschierenden Lange-Nacht-Touristen ein kleiner Einblick in die bunte Welt der Emigrantski-Raggamuffin-Republik.

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Foto: Dominic Pencz

Was könnte man in diesen vier Stunden nicht alles unternehmen: knapp hundert Kultureinrichtungen stehen offen, die man mit dem Bus anfahren könnte. Man könnte sich auch in die Schlange zum Bunkerhotel stellen, die den Marktplatz einmal umrundet. Wir haben es – wie eine Gruppe von (ungarischen?) Rotfront-Fans – vorgezogen, den ganzen Abend mit Russendisko-Gründer Yuriy Gurzhy, Simon Wahorn und ihrem Kollektiv zu verbringen. Und wir haben einen Heidenspaß, als die ehrwürdigen Hallen des Alten Schlosses immer wieder ordentlich erschüttert werden.

Der Sound von Rotfront ist kompromisslos auf Party aus. Es sind bei weitem nicht nur russische Weisen, die sie zum besten geben. Musikalisch verschmilzt hier alles, was Ost und West an Tanzbarem hervorgebracht haben: Polka, Ska, Reggae, Raggamuffin, Klezmer, Dub, Cumbia, HipHop, Punk und Rock und sogar Tango. Eine explosive Mischung, die wirklich jeden Club zum Beben bringt. Dass dies aber auch in einem nicht unbedingt stimmungsvoll ausgeleuchteten Saal mit Durchgangspublikum bei dreimaliger Konzertunterbrechung gelingt, zeigt die ganze Klasse der Band. (Übrigens: nicht ganz einfach, die riesige Halle soundmäßig in den Griff zu bekommen, aber selbst das gelingt. Zumindest auf den entscheidenden zehn Metern vor der Bühne.)

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Foto: Dominic Pencz

Jedes der vier Sets ist so aufgebaut, dass schon mit dem ersten Titel Partystimmung aufkommt. Gesungen wird auf deutsch, russisch, ungarisch, englisch und jiddisch. Yuriy Gurzhy (Ukraine), Simon Wahorn (Ungarn), Katya Tasheva (Bulgarien) und Mad Milian (Berlin) teilen sich die Gesangsparts. Die Bläsergruppe um Posaunistin Anke Lucks hat natürlich einen großen Anteil an der druckvollen Performance: von typischen Balkanfanfaren, über eine großartige Klezmer-Klarinette (Max Hacker) bis hin zu gerade jazzigen Soli (Saxophon: Dan Freeman), haben die drei ein enormes Spektrum. Unbedingt erwähnenswert: „Gay, Gipsy & Jew„, der gesungene Aufruf zu Toleranz, der zwei coole Sprechgesangs-Parts enthält. Einer wird im Jamaika-Patois getoastet, der andere im New-York-Stil gerappt.

Im dritten Set hat Drummer Jan „Stix“ Pfennig seinen großen Auftritt: bei „Eyn Tsvey“ verlässt die Band die Bühne und er spielt ein grandioses, fast fünfminütiges Solo. Der Laden kocht. Und unbedingt zu erwähnen: Rotfront haben sich an diesem Abend mit dem Gitarren-Virtuosen Attila Sidoo von „Besh o droM“ verstärkt, der, ganz bescheiden am Bühnenrand stehend, immer wieder mit unglaublich schnellen Soli begeistert.

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Foto: Dominic Pencz

Das letzte Viertel ist dann der endgültige Stimmungshöhepunkt. Bei Deichkinds „Remmidemmi“ (übrigens, einer der wenigen Coversongs, die besser sind als das Original) kommt sogar Kaffee-Burger-Stimmung auf. (Hier vermissen wir ganz kurz Ex-Sängerin Dorka Gryllus, die zwar stimmlich nicht an Katya Tasheva herankommt, aber diesen Titel mit einem unnachahmlich naiven Ton zum Besten gab.) Bei „No Sleep Till Berlin“ wird ein Publikums-Spiel gemacht, das wir so noch nicht kannten: die „Wall of Death„. Wie einst Moses das Meer, teil MC Mad Milian das Publikum in zwei Hälften und springt in die entstehende Gasse. Auf Kommando branden die Hälften aufeinander und vermischen sich im wilden Pogo. (Und dies alles unter den verwunderten Blicken der klassischen Museumsbesucher)

Kurz vor Mitternacht legen die offensichtlich unermüdlichen Musiker mit „B-Style“ sogar noch eine Zugabe drauf.

In Stuttgart waren Rotfront übrigens bisher nur einmal, und zwar 2008 auf dem Festival der Kulturen auf dem Marktplatz, zusammen mit dem zweiten Russendisko-DJ Wladimir Kaminer. So lang darf es bis zum nächsten Rotfront-Besucht nicht wieder dauern, meint Yuriy. Da stimmen wir zu und fragen uns: welcher Veranstalter schnappt sich diese unwiderstehliche Party-Band? Wir könnten sie uns gut vorstellen im Laboratorium (oder auf dessen Festival), in den Wagenhallen, oder auch gerne wieder auf dem Marktplatz…

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Foto: Dominic Pencz

Und hier für die Chronik die Setlist des längsten Rotfront-Konzerts aller Zeiten:

VisaFree
B-Style
Devil
Sovietoblaster
Berlin – Barcelona
Real Berlin wedding
Sigaretta
Medley

Immigrant Song
Cs?Váz
Kotschma
Tüz
Backsteinpulver
James Bondski
Kontrabanda
Gay, Gypsy & Jew
Live is Life

Tango
Weather
Paris
Village Superstar
Eyn Tsvey
Everyone Speaks Russian
Money Money Money
Case Full Of Drugs

YouTube Song
Loser
Emigrantski Raggamuffin
Remmidemmi
No Sleep Till Berlin
Disko Boy
Mama
Shenya

B-Style

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