MIA., 16.11.2012, Liederhalle, Stuttgart

MIA.

Foto: Dominic Pencz

Ja gut, ich muss also zu MIA.. Nicht dass ich nicht wollen würde – hab mich ja schließlich freiwillig dafür eingetragen. Aber ehrlich, ich bin ganz schön am Arsch. Die schon seit Wochen verschleppte Erkältung will sich nicht länger ignorieren lassen und zwingt mich langsam in die Knie. Auf die Schnelle ließ sich für das quietschebunte Popkonzert am Freitagabend kein Ersatz finden. Also Tempos eingepackt und los. Im Auto versuche ich mich schon mal in gute Laune zu zwingen mit dem ersten MIA.-Album „Hieb & Stichfest“. Das gefällt mir immer noch am besten, weil’s irgendwie rauer und rotziger ist als seine Nachfolger (rotzig, haha, passt ganz gut). Gelingen tut mir das jedenfalls nur bedingt.

Vor der Liederhalle muss ich erstmal auf meine Begleitung warten. Ich habe also genug Zeit mir das Publikum genau anzuschauen. Die Fans reiferen Alters übertreffen die Jungen bei Weitem. Generell lässt sich aber die Faustregel aufstellen: je jünger desto weniger haben sie an. Ich friere schon beim Hinschauen. Aber eigentlich friere ich sowieso. Mittlerweile bin ich nicht mehr allein, müssen aber noch auf den Rest warten. Männer sehe ich selten und wenn, dann in weiblicher Begleitung. „90 zu 10“, denkt Mona laut und meint damit das Geschlechterverhältnis. Wir sind vollzählig und können rein. Seltsames Ambiente. Irgendwie zu kühl. Schicke Kellner reichen einem die Getränke, die nicht gerade günstig sind. Immerhin, dafür wird einem von mindestens genauso schickem Personal die Tür zum Konzertsaal geöffnet. Kann man dann auch mal einen Euro mehr zahlen für sein Bier. Oder Cola in meinem Fall. Ausnahmsweise. Erstmal.

Drinnen spielt die Vorband Laing gerade ihren vorletzten Song. Irgendwas mit „maschinell“. Dabei bewegen sich die vier kurzberockten Damen mit roboterhaft abgehackten Bewegungen. „Die sind bestimmt aus Berlin“ sagt Monas Freundin Dani und wird damit recht behalten. Ihr letzter Song „Morgens immer müde“ scheint den Reaktionen des Publikums nach bekannt zu sein. Electro meets Pop und Soul oder so.

Während als Ninjas verkleidete Roadies ihren Job tun und die Bühne umbauen, lasse ich meinen Blick ein wenig umherschweifen. In mein Sichtfeld gerät ein obszön wild knutschendes Pärchen. Wobei, vielleicht ist er doch HNO-Arzt und schaut nach ihren Mandeln. Nebenan tanzt ein vielleicht zehnjähriges Mädel schon zur Pausenmusik. Ihre Mutter… oder große Schwester (hier gehen die Meinungen auseinander)… macht es ihr mit einem Veitstanz vor. An den Armen erkennt man’s, sagt Sonja immer. Zu weit weg, kann die Arme nicht so gut sehen. Ekelhaft gute Stimmung jedenfalls. Aber die haben ja auch alle keine Schmerzen beim Schlucken. Ich spreche wenig und versuche mich zusammenzureißen. Komme mir trotzdem vor wie Gargamel unter Schlümpfen. Ich versuch’s doch mal mit einem Bier.

MIA.

Foto: Dominic Pencz

Ziemlich genau um 21 Uhr gehen die Lichter aus, der Vorhang fällt und gibt den Blick frei auf Mieze Katz und ihre Band. Im knappem Glitteroutfit steht sie mit ausgebreiteten Armen und wehendem Schal vor der Windmaschine und singt passenderweise „Ich stemme mich gegen den Wind“. Das Pop-Spektakel beginnt. Ich glaube ernsthaft noch nie Fans gesehen zu haben, die so schnell abgehen. Zugegeben, hin und her schwingende Arme und Mitklatschen im Takt sind nicht jedermanns Geschmack (mich eingeschlossen), aber ein bissle beeindruckt bin ich schon. Gefühlt bin ich der einzige Spielverderber. Ungefühlt wahrscheinlich auch.

„Wir wollen heute nirgendwo anders sein als hier mit euch in Stuttgart“, sagt Mieze. Mir wäre mein Sofa heute ehrlich gesagt lieber. Wobei ich zugeben muss, dass meine Laune langsam besser wird. Nach und nach und von mir völlig unbemerkt groven sich auch meine Beine ein. Jetzt fällt mir auch wieder ein, warum ich mich für dieses Konzert eingetragen habe. Musikmäßig ist MIA. sicher nicht gerade mein safe haven, aber manchmal darf es eben auch einfach bunter Gute-Laune-Pop sein. Eurovision Song Contest hin, Selbstdarstellung her – Mieze versteht ihren Job und weiß wie man Stimmung macht. „Die ist ja voll süß“, meint Mona. Ich muss an den Nationalismus-Vorwurf vor einigen Jahren denken und lache leise vor mich hin. Hey Leute, war das wirklich euer Ernst?

MIA.

Foto: Dominic Pencz

Ich fühle mich ein bisschen wie in einem Musical. Sängerin Mieze steht in immer neuen Outfits auf der Bühne. Mal dreht sie bei „Aufruhr“ mit Jacket und Kapitänsmütze am Steuerrad, zu „Zirkus“ trägt sie eine Federkrone auf dem Kopf (einer ihrer Bandkollegen stackst dazu auf riesigen imposanten Stelzen über die Bühne) und manchmal hat sie ein weißes Kleid an. Als sie mit Wasserpistolen ins Publikum spritzt, bin ich froh nicht ganz vorne zu stehen. Wenn ich nachher mit nassen Klamotten in die Kälte raus müsste, wäre mir eine waschechte Lungenentzündung fast schon garantiert. Egaler sind mir da schon die blinkenden Seifenblasenpistolen. Tun nicht weh und sehen nett aus. Ist ja schließlich ein Popkonzert. Und Mieze sagt ja auch, dass wir unseren Alltag an diesem Abend hinter uns lassen sollen. Sogar bei mir klappt das mittlerweile ganz gut. Bei den anderen sowieso. Manche scheinen nur darauf zu warten, dass sie in die Hände klatscht, denn innerhalb von drei Sekunden macht es ihr der ganze Saal nach. Und damit meine ich wirklich den ganzen Saal (außer mir halt). Schräg vor mir versucht eine adrette Mittdreißigerin die Armmoves von Mieze zu imitieren und direkt vor mir tanzt sich ein Pärchen lachend an. Zu „Hungriges Herz“ (hier schmettert der Saal tatsächlich noch lauter mit als sowieso schon) spielen sie sogar pantomimisch nach, wie das Schwert ins Herz sticht. Mann kann sagen was man will, aber MIA. rocken das Haus (poppen klingt irgendwie doof).

Aber Mieze kann aber auch zart und verletzlich wie bei „Brüchiges Eis“. Auf den Knien verloren ins Scheinwerferlicht zu starren, ist mir persönlich ein bissle too much oder auch over the top (haha, das wollte ich schon immer mal schreiben), die anderen nehmen es ihr aber nicht krumm. Auch nicht, dass sie die im Saal für sie sehr präsente Hoffnung lobpreist und dass daraus Mut wachsen kann. Mir ist das zu pathetisch. Ignorier ich’s halt. Blumenwiese! Blumenwiese!

MIA.

Foto: Dominic Pencz

Jetzt gibt’s auch schon wieder großes Kino. Mieze kommt in einem goldenen Mantel auf die Bühne. Unter dem Applaus und dem Gejohle ihrer Fans fällt der zu Boden und darunter trägt sie…verdammt… nichts! Ach halt, nee, ich hab mich vertan. Ist doch ein knapper weißer und hautenger Body. Jetzt wird auch klar, warum da in etwa dreieinhalb Metern Höhe ein Ring hängt. Mona hat’s schon vermutet: es wird noch geturnt. Gerade jetzt ist sie allerdings auf dem Kl… ähm, sich frischmachen meine ich. Sie verpasst also, wie Mieze ohne Netz oder sonst irgendeine Absicherung in luftiger Höhe zum Song „La Boom“ von einer sexy Pose zur nächsten schwingt. Okay, für olympisches Gold wär das vermutlich zu wenig. Um mich zu beeindrucken reicht’s ganz locker. Sieht für einen Laien jedenfalls sehr gekonnt und extrem elegant aus. Aber Mensch, wenn die runterfällt! Zahlt da die Versicherung? Wurscht, denn sie kommt gesund und munter wieder auf dem Boden an.

„Hungriges Herz“ ist erstmal der letzte Song von MIA. Jetzt bebt die Halle nochmal richtig. Diamond Daves Theorie nach gehören die Berliner also zu der Sorte Band, die sich ihre allergrößten Hits bis zum Schluss aufheben. Auf der Bühne steht ein großes, rot blinkendes Herz und auch Mieze hat sich eines umgeschnallt. Und die Luft ist ja sowieso quasi geschwängert von Liebe. MIA. gehen von der Bühne, aber einige Hundert knallrote Hände und eine Stampede später, sind sie wieder zurück. Ganz in weiß. Ah ja, wie im Video zu „Tanz der Moleküle.“ Mieze singt ein einziges Wort, dann hebt sie das Mikro ins Publikum und siehe da – wie aus einer Kehle hallt es durch den Raum:

„Ich bin hier
Weil ich hier hin gehör.
Von Kopf bis Fuß bin ich verliebt.
Du bist mutig
Weil du mir Treue schwörst,
Zwischen all den schönen Souvenirs.“

Nach etwas mehr als eineinhalb Stunden geht der bonbonbunte Abend dann zu Ende. Es wird geklatscht, gegrölt, es gibt zwei oder drei Stampedes, Mieze macht Herzchen ins Publikum und bekommt Hunderte zurück und alle scheinen verdammt glücklich zu sein. Mieze muss fast weinen vor Rührung. Vielleicht ist sie aber auch nur eine gute Schauspielerin. Egal sag ich mir, man muss ja nicht alles hinterfragen. Gesundheitlich geht’s jedenfalls bergab, merke ich gerade. Ist mir gar nicht aufgefallen bei all der guten Laune. Schade nur, dass MIA. „Alles neu“ nicht gespielt haben. Gefällt mir immer noch am Besten. Auf mich wartet jetzt mein Bett. Es geht nach Hause – mit offenem Herzen und zuenen Nebenhöhlen.

MIA.

Foto: Dominic Pencz

3 Gedanken zu „MIA., 16.11.2012, Liederhalle, Stuttgart

  • 19. November 2012 um 17:58 Uhr
    Permalink

    Super Text, Carsten! Kann alles – auch Deinen Gesundheitszustand – gut nachvollziehen. Wenn ich nicht zeitgleich im Galerienhaus Vernissage gehabt hätte, wären wir vielleicht – als einzige Nicht-Mitklatscher – irgendwann nebeneinnader gestanden.

  • 19. November 2012 um 18:43 Uhr
    Permalink

    Danke Marko! Nächstes Mal dann. Vielleicht dann auch mit offenen Nebenhöhlen… :o)

  • 19. November 2012 um 23:14 Uhr
    Permalink

    Sauber!

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