UNHEILIG, 20.07.2012, Cannstatter Wasen, Stuttgart
Selten fand ich einen persönlichen Konzertbericht so schwierig wie den über Unheilig. Wäre ich nicht Gigblogger, sondern spitzzüngiger Feuilletonist bei einer hochtrabenden Bildungsbürger-Gazette, dann wäre es ein Leichtes, mich über das Konzert von Unheilig lustig zu machen. Ich würde mich über den allzu glatten Auftritt des Grafen amüsieren, würde seinen Pathos ins Lächerliche ziehen und überhebliche Kommentare über das Normalo-Publikum absetzen. Dann würde ich mir selbst einen weit exquisiteren Musikgeschmack attestieren und den Konzertbesuch als lästige Pflicht, bestenfalls als interessante Sozialstudie abtun.
Aber so einfach ist es nicht. Denn ich muss anerkennen: so durchschaubar das Unheilig-Konzept ist, so gefällig sich der Graf dem Publikum als Projektionsfläche für Sehnsüchte und Gefühle anbietet, so gut ist er und seine Band, wenn es darum geht, zwanzigtausend Zuschauern einen guten, stellenweise mitreißenden Konzertabend zu bieten.
Und in diesem besonderen Fall gab es noch drei weitere Gründe, zu Unheilig zu gehen: meine Kinder. Die hatten den Grafen nämlich mal als Casting-Paten bei Kika gesehen und wünschten sich einen Konzertbesuch.
Und sie waren bei weitem nicht die einzigen dort. Genau genommen sind die Kleinen sogar eine von Unheiligs Hauptzielgruppen – eigentlich erstaunlich bei dieser manchmal geradezu rammsteinig harten Musik. Dennoch versteht sich Unheilig, zumindest seit der Abkehr von der Schwarzen Szene, als Band für alle Generationen. Kinder unter 12 zahlen – genau wie Rentner über 65 – keinen Eintritt und genießen bevorzugte Behandlung in Form eines exklusiven Eltern-Kind-Blocks direkt vor dem Mischerturm. Zumindest theoretisch. Hat man sich mit seinen Blagen nämlich erstmal durch die Massen bis zum besagten Block durchgekämpft, wird die Abgrenzung wenig später für das mächtig hereindrückende übrige Publikum geöffnet. Lieber Veranstalter, da hätten wir uns ein wenig mehr Organisation gewünscht.
Rechtzeitig zu Konzertbeginn hört es auf zu regnen, dramatisch-dunkle Wolken bilden den passenden Rahmen, die Bedingungen sind aber nicht ideal. Die Vorbands Staubkind und Andreas Bourani haben die allzu große und allzu kühle Asphaltwüste des Wasen nicht wirklich erwärmen können, das Wetter ist trübe, das Publikum eher freitagabendlich genervt.
Das Konzert beginnt mit einer Videoeinspielung, die Band beginnt den Auftritt hinter dem obligatorischen weißen Vorhang (welche Band nutzt diesen Effekt eigentlich noch nicht?) bis sich dieser öffnet und der Graf in seinem charakterischen Gehrock aus der ganz in schwarz-weiß gehaltenen „Lichter der Stadt“-Kulisse tritt.
Mit „Herzwerk“ wird gleich einer der härteren Titel intoniert. Wie zu erwarten, besteht das Programm zum größten Teil aus seinen beiden aktuellen Hit-Alben „Lichter der Stadt“ und „Große Freiheit“, aber im Laufe des Abends werden auch ein paar Titel aus seinem Frühwerk gespielt. Ob dies von irgendwelchen alten Fans aus Unheiligs Gothic-Zeit gewürdigt wird, kann ich nicht beurteilen. Ich habe jedenfalls keine Schwarzkittel gesehen.
In einem gut geplanten Wechsel aus Balladen und rockigeren Titeln bringt Unheilig den Laden schnell in Schwung, bei „Große Freiheit“ beginnt das Publikum dann auch mitzusingen, inklusive der Polizistin, die eine Reihe vor mir ihren Ordnungsdienst versieht.
Der Graf hat eine bemerkenswerte Bühnenpräsenz: konsequent in schwarz-weiß gestylt, ist er auch in den letzten Reihen noch gut zu sehen. Große Gesten für die große Bühne hat er auch drauf: die Verbeugungen vor dem Publikum besonders tief, die Arme raumgreifend ausgebreitet, als wolle er alle Fans umarmen. Und damit ihn auch jeder sieht, sprintet er pausenlos an alle Bühnenenden und hinaus auf den Steg ins Publikum. Jeder Applaus wird mit einem „Dankeschön“ gewürdigt, was das Publikum wiederum mit einem „Bitteschön“ quittiert.
Etwas eigentümlich ist nur, dass der Graf zwischen den Titeln immer wieder von der Bühne verschwindet und kleine Video-Geschichten eingespielt werden, die wohl einen thematischen Bogen bilden sollen, in Wirklichkeit aber nur den Fluss des Konzerts behindern – und manchmal einfach nur kitschig sind. Hier wäre weniger mehr gewesen. Die restliche Show ist nämlich erfrischend reduziert. Gerade mal vier Mann auf der Bühne, auf größere Effekte wird verzichtet.
Nur einmal wird die Bühne stärker bevölkert: ein Dutzend Kinder, die im Rahmenprogramm des Konzerts im „Unheiligen Kinderland“ ausgewählt wurden, dürfen den Grafen auf einer Reihe von Cajons begleiten. Nun ja, das ist dann doch ein wenig dick aufgetragen.
Nach knapp zwei Stunden endet das Konzert mit dem Hit „Geboren um zu leben“. Um die Zugaben lässt sich Unheilig auch nicht langen bitten: in zwei Extrarunden gibt es „So wie du warst“, „Für immer“, „Maschine“ und „Stark“, Unheiligs ersten deutsch gesungenen, inzwischen zwanzig Jahre alten Titel.
Du schreibst gut, junger Mann!!!
Danke schön anglokraut. Hier gibt’s mehr davon https://www.gig-blog.net/uber-uns/holger-vogt/publizierte-artikel-holger/ ;) (Meine Kollegen schreiben aber auch ganz doll, die meisten sogar besser…)
Mit Spannung erwartet, schön geschrieben, Vielschichtigkeit verstanden, gern gelesen ;-)