GRAVEYARD, WHITE DAZE, 29.05.2012, Universum, Stuttgart

GRAVEYARD + WHITE DAZE, 29.05.2012, Universum, Stuttgart

Foto: Steffen Schmid

Auf Konzerten der Sechziger und frühen Siebziger muss es ja noch ziemlich gesittet zugegangen sein – „gesittet“ teilweise sogar mehr von Sitzen als von Sitte. Und wenn nicht gesessen, so doch gestanden – der Pogo war ja noch nicht erfunden. Man kann das auf Aufnahmen aus Woodstock (1969) sehen, oder in dem alten Beat-Streifen „Ich – ein Groupie“ (1970): Die Jungs und Mädels stehen rum wie festgenagelt, sitzen auf dem Boden oder lümmeln sich in Sesseln. Zugleich sieht man dort auch, woran das liegt. Aber das könnte keiner schöner ausdrücken als Ozzy Osbourne in „Fairies Wear Boots“ (1970):

Son, son, you’ve gone too far
’Cos smokin’ and trippin’ is all that you do.

Da können die Musiker auf der Bühne ausrasten so viel sie wollen: In Michelangelo Antonionis Meisterwerk „Blowup“ (1966) kommt nicht mal Bewegung ins Publikum, als Jeff Beck in der berühmten Yardbirds-Szene seine Gitarre zerstört. Erst als er den abgebrochenen Hals ins Publikum wirft und es um die Trophäe geht, kommt es zum Tumult. Kein Pogo bei Bluesrock also? Weit gefehlt: Heute spielen das Graveyard und White Daze in einem ganz anderen Universum.

GRAVEYARD + WHITE DAZE, 29.05.2012, Universum, Stuttgart

Foto: Steffen Schmid

Überhaupt sind beide Bands für Überraschungen gut, ob man sie nun kennt oder nicht. White Daze sagte mir vorher nichts, aber natürlich sehe ich mir Vorbands an, wenn es sich einrichten lässt. Im Goldmarks lasse ich mich vor dem Konzert von Vertretern von Music Circus und dem Popbüro noch mit großen Erwartungen ausstatten: Gewinner des letztjährigen Rocktest-Bandwettbewerbs sind sie. Wirklich gute Musiker sind sie. Erstaunlich sind sie, wo sie doch nur 17 und 18 Jahre alt sind. Auf dem Zürcher Lauter-Festival haben sie ein fremdes Publikum locker in ihren Bann gezogen. So weit, so schlecht, denn man weiß ja, wie das mit großen Erwartungen ist: Sie werden gerne enttäuscht.

Aber die Überraschung funktioniert trotz Vorankündigung! Ich bin mir nicht so sicher, was man da hätte ankündigen müssen, damit die drei Jungs aus Weil im Schönbuch dem nicht hätten Stand halten können. Damit hat wohl keiner gerechnet. Zuerst fangen sie mal damit an, das Publikum für sich einzunehmen, wie das wohl auch in Zürich geschehen ist: Während des erstens Songs ruckelt es noch ein wenig in den Reihen des bereits gut gefüllten Universums. Am Ende des Stücks bricht aber schon die Begeisterung los, welche den Auftritt bis zum Ende in die für Vorbands ungewöhnliche zweite Zugabe begleiten wird. Vierzig statt dreißig Minuten kommt die Band mit charmanter Freude den Aufforderungen des Publikums nach.

Freude ist überhaupt das richtige Stichwort, denn grinsend stehen sie da und wechseln gelegentlich Blicke, die zu sagen scheinen: „Ist es nicht geil?“ Sicherlich ein euphorisierender Moment für die jungen Musiker, die uns alles geben, was sie haben: von Marc Bauers Bluesrock-Stimme und Vintage-Gitarre über Nicos – seines Bruders – teilweise gar Rock’n’Roll-angehauchte Keyboards bis hin zu den originellen Drums von Sebastian Neumeier. Damit schaffen sie es sogar das Publikum als Backing-Vokalisten einzusetzen – und zwar ohne lange Aufforderungen: Nach einer Songzeile ruft Marc einfach „Uh“ genau das macht das Publikum nach jeder der folgenden Zeilen dann auch. Warum kompliziert, wenn es auch einfach geht? Sie spielen sauber und schnell, mit jeder Menge irrer Melodien und so abwechslungsreich, dass man nach einem Break immer wieder denkt, jetzt wären sie beim nächsten Stück, nur um beim Refrain zu merken, dass man drauf reingefallen ist. Es gibt Soli und spannende Duette zwischen den Geschwistern. Und wem das nicht reicht, der bekommt kleine Schmankerl dazu, wie den Bottleneck, der bei „Rough Diamond“ nur für einen Ton im Riff eingesetzt wird.

Klar hört man die Rainbow oder Led Zeppelin-Einflüsse, aber ihre Vorbilder hat die Band schließlich auch gut gewählt. Wenn in White Daze nochmal so viel Potential steckt, wie sie jetzt schon entfaltet haben, weiß ich nicht, wo das hinführt. Die hatten Spaß, wir hatten Spaß, und neues Studiomaterial ist auch schon in Vorbereitung.

GRAVEYARD + WHITE DAZE, 29.05.2012, Universum, Stuttgart

Foto: Steffen Schmid

Damit haben White Daze dem Headliner ganz schön vorgeheizt, inklusive des tropischen Klimas im Saal. Manch eine Band könnte da jetzt einpacken, schließlich hat man es nicht nur einmal gehört (oder gesehen), dass eine Vorband dem Haupt-Act keine Chance gelassen hat. In meinem vorletzten Graveyard-Bericht hatte ich geschrieben: „Dass Graveyard heute alles an die Wand spielen, war […] ohnehin klar.“ Stellt sich also die Frage: Sind die Erwartungen jetzt so hoch gesteckt, dass man nur noch enttäuscht werden kann? Aber wer da zweifelte, durfte sich überraschen lassen – das heißt: Eigentlich war es auch für diejenigen eine Überraschung, die nicht gezweifelt haben. Und für solche Überraschungen sind sie die vier schwedischen Retro-Rocker immer gut.

Das Universum ist jetzt proppenvoll. Wer die von mir unlängst an kleinen Clubs gepriesene Nähe zur Bar genießen will, muss dort schon stehen bleiben. Denn an willkürliche Bewegung ist nicht zu denken. Erstens ist kein Platz, zweitens klebt man einfach an den Umstehenden fest. Aus einem leisen Klangteppich schält sich langsam der erste Song „Blue Soul“. Mit dieser noch relativ gelassenen Nummer vom ersten Album holen sie uns ab aus dem Stuttgarter Hexenkessel und führen uns langsam irgendwohin jenseits des maximalen Sechziger- und Siebziger-Extaselevels. Knackig ist der Sound, schärfer die Gitarren, härter die Drums. Mit „Bying Truth“ zieht die Band auch das Tempo an. Sie sind gut drauf und schneller, noch rockiger als auf Platte. Auch die eine oder andere Variation wird in die Stücke eingebaut, wie in „As The Year Passes By, The Hours Bend“, das von „Ungreatful Are The Dead“ gefolgt wird.

Man merkt jetzt aber schon deutlich, dass es ihr Publikum ist und dass dieses Publikum ihnen an den Lippen hängt: Bei der Ankündigung von „Uncomfortably Numb“ kommt Joakim Nilsson vor lauter Jubel über „Uncom…“ gar nicht hinaus. Das Publikum geht voll mit. Oben geben auch die Musiker, allen voran Bassist Rikard Edlund, alles. Weiter geht es Knall auf Fall: „Ain’t Fit To Live Here“ mit einem ersten Crowdsurfer, – wo man sich langsam überlegen muss, ob man die Arme oben oder unten halten muss, weil es zum Bewegen zu eng wird, – „No Good, Mr. Holden“, bei dem das Publikum jeden Gitarrenton auswendig kann, und „Satan’s Finest“, das heute herrlich schmutzig klingt. Und schon kündigen Graveyard ihren letzten Song an. „No!“, schreit es aus den Kehlen des fast ausverkauften Hauses. Bei „Hisingen Blues“ bricht vorne endgültig der Slamdance-Pogo los, mit dem ich hier wirklich nicht gerechnet hätte. Bier spritzt aus hochgehaltenen Flaschen. Und ein Mädchen, das ohnehin schon die ganze Zeit total abgeht, benutzt ihre Bierflasche gleich wie einen Weihwasserschwengel. Dummerweise stehe ich neben ihr, aber die Flasche ist ja schnell leer. Joakims Lyrics beschreiben es: „Nothing lasts forever“, seine Stimme aber: unbeschreiblich.

Weiter geht’s nach kurzer Pause mit „The Siren“. Nur mit Songtitel aufschreiben wird es jetzt aber schwierig. Man könnte geradezu meinen Jeff Beck hätte eben wie in „Blowup“ seinen abgebrochenen Gitarrenhals in meine Richtung geschleudert. Noch mehr Bier spritzt beim Klatschen aus Flaschen. Nochmal gibt’s einen Crowdsurfer.

Da soll mal einer sagen, früher sei alles besser gewesen. Wäre das langweilig, sich zu solcher Musik auf Euphoriehospitalismus beschränken zu müssen. Wir haben die Musik, und wir haben die Party. Und einer steht mitten drin in all dem Trubel: Tobi, mit seinem Rollstuhl ganz vorne, lässt sich schlimmstenfalls dadurch aus der Ruhe bringen, dass mit „Thin Line“ das Set endet, nicht aber von dem Gerangel um ihn herum. Ich muss sagen, ich bin überrascht: Fünf oder sechs Mal habe ich Graveyard jetzt schon gesehen, aber dieser war definitiv vor dem deftigsten Publikum. Perfekt.

GRAVEYARD + WHITE DAZE, 29.05.2012, Universum, Stuttgart

Foto: Steffen Schmid

Ein Gedanke zu „GRAVEYARD, WHITE DAZE, 29.05.2012, Universum, Stuttgart

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.