DEAR READER, 15.05.2012, Speakeasy, Stuttgart
Und ich sag noch: „Leute, geht zu Dear Reader ins Speakeasy. Das wird sicher ein tolles Konzert.“ Wollte wieder mal keiner hören. Habt ihr Pech gehabt. Denn dieser Abend war ein Hochgenuss! Und er hat meine hoch gesteckten Erwartungen noch weit übertroffen.
Erstmal kann ich nicht genug loben, dass die Leute vom Speakeasy die Reihe „Petit Sejour“ aus der Taufe gehoben haben. Wer’s noch nicht kennt: jeden Dienstagabend gibt es im „kleinen Wohnzimmer“ musikalische oder literarische Kleinode für schmalen Eintritt. Dazu wird der Club mit Sofas, Sesseln und Perserteppichen umgestaltet. An diesem Abend ist der Eintritt – angesichts des Bekanntheitsgrades der Band – mit elf Euro allerdings etwas höher bemessen. Trotzdem versteh ich nicht, warum manche da an der Tür rummaulen. Soviel zahlt man doch auch ohne zu Zögern für einen 3D-Movie – und hier gibt’s dafür echte, lebendige, sogar ziemlich bekannte Musiker, Live-Atmosphäre und große Gefühle!
Das Wohnzimmer ist gut gefüllt, geschätzte 150 Zuschauer dürften sich eingefunden haben. Das Vorprogramm bestreitet Amy Schmidt, Singer-Songwriterin aus Nebraska mit einigen Titeln ihres aktuellen Albums „Restless Things„. Zu ihrer Western-Gitarre singt sie über kleine Episoden aus ihrem Leben. Und warum sie überhaupt Musik macht, erzählt sie auch: Sie wollte die „endless cornfields and dirt roads“ ihrer Heimat mal hinter sich lassen und die Welt sehen. „Good to be in Stuttgart tonight“. Wenn das mal keine Motivation ist. Jedenfalls liefert sie eine schöne Einstimmung – genau das, was das Konzept des Petit Sejour verspricht: kleine, feine Bands in akustischer Besetzung.
Umso überraschender, dass Dear Reader mit kompletter Band und einer beachtlichen musikalischen Ausstattung angereist sind. Dass ihre kleinen Sets, wie sie eines zum Beispiel bei TV Noir gespielt haben, wunderbar sind, davon habe mich bei zur Konzerteinstimmung schon via Youtube überzeugt. Da ihr aktuelles Album aber stellenweise recht opulent instrumentiert ist, bin ich sehr gespannt, wie sie diesen Sound mit nur vier Musikern live realisieren.
Dear Reader, also zumindest die Frontfrau Cherilyn MacNeil, kommen ursprünglich aus Südafrika, leben aber aktuell in Berlin und haben mit ihrem aktuellen Konzept-Album „Idealistic Animals“ ein Meisterwerk abgeliefert. Das sage nicht nur ich. Da sind sich die einschlägigen Musik–Postillen einig. Beim Versuch, ihren Stil zu beschreiben, stößt man dabei auf Genres wie Elektro-Folk, Folk-Rock, Indie-Pop, Folk-Pop oder auch Art-Pop. Also Elektro-Indie-Folk-Art-Rock-Pop.
Auf der Bühne ist Dear Reader zu allererst Cherilyn MacNeil. Die Sängerin ist derart präsent und versprüht soviel Charme und Witz, dass die Band zuerst mal in den Hintergrund tritt. Und diese Stimme! Klar, ausdrucksstark und variantenreich, manchmal fast zu schön. Dazu spielt sie Klavier, Akkordeon und Gitarre und ist dabei nur eine der Multinstrumentalisten bei Dear Reader. Die Background-Sängerin betätigt ebenfalls Keyboards, spielt dazu aber noch Bass, Gitarre und – ganz wichtig – eine Bratsche. Und davon manchmal sogar mehreres gleichzeitig. Der Bassist steuert noch die Trompete bei. Das ist also das Geheimnis des opulenten Dear-Reader-Sounds.
Dies ist auch genau die Besetzung, in der das Album eingespielt wurde. Und es gelingt dank perfekten Zusammenspiels, die dichte, manchmal düstere Atmosphäre der Studio-Aufnahme auf die Bühne zu bringen. Zumindest fast. Wäre da nicht ein hartnäckiges Brummen auf den Boxen, das der Techniker leider erst zur Zugabe beseitigen kann. Aber dieses Hindernis nimmt Cherilyn MacNeil mit Bravour: langanhaltende, monotone Geräusche wie einen Wasserfall oder ein Brummen würde unser Hirn ohnehin irgendwann rausfiltern, erklärt sie in ihrem „beschissenen deutsch“ und macht weiter im Programm.
Das Set beginnt mit „WHALE (Boohoo)“. Wie alle Titel von „Idealistic Animals“ hat er ein Tier und ein großes menschliches Gefühl, ein hehres Ideal oder eine Sehnsucht zum Thema. So locker die Melodien klingen, die Texte sind durchaus melancholisch, manchmal richtig traurig. In jeder Hinsicht: dieses Konzert berührt, Gänsehaut-Stimmung macht sich breit. Es sind die schönsten Momente, wenn die Viola sparsam, aber wirkungsvoll spielt. Aber bevor sich hier Trübsinn ausbreitet, erzählt Cherylin lustige Geschichten. Wie zum Beispiel ihr Song „MOLE (Mole)“ durch ein Übersetzungs-Missverständnis zu einem Lied über schwule Maulwürfe wurde. „Quatsch is my speciality, you know“
Und so höre ich im Laufe des Abends anrührende, zutiefst menschliche Geschichten über Affen, Kamele, Giraffen, Regenwürmer, Bären und Menschen. Mit „FOX (Take Your Chances)“ endet der Abend.
Und natürlich greife ich am Merchandise zu: das Album – bisher nur als Spotify-Playlist in meiner Heavy Rotation – steht nun als Oldschool-Compact-Disc im Schrank. (Zur reinen Archivierung hätte ich eigentlich auch eine noch altertümlichere Vinyl-Version nehmen können). Gehört wird weiterhin via Online-Stream. So verdient die Band zweimal… wenn auch nur sehr wenig. Wenn ihr den Gig also verpasst habt, könnt ihr euch und der Band etwas Gutes tun: erweitert eure Platten-Sammlung um ein Dear-Reader-Album. Ihr werdet’s nicht bereuen.
Jetzt bereue ich schon ein wenig, dieses Konzert versäumt zu haben…
P.S.: schön geschrieben!
Und sehr guter Tipp mit dem Dienstag!
vielen dank :)….am 22.5 kommt Maxim zu uns….wird auch wieder deutlich günstiger …. 5 Euro AK :)…bis zum nächsten mal