MARKE MENSCH // DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY, 15.12.2011, galerie ak1, Stuttgart

MARKE MENSCH // DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY, 15.12.2011, galerie ak1, Stuttgart

Foto: Patricia Werries

Jene Besucher, welche am Donnerstag bei der Premierenvorstellung von „Marke Mensch // Das Bildnis des Dorian Gray“ des freien Ensembles SpielZeugen ein ganz gewöhnliches Theaterstück erwartet hatten, dürften ziemlich überrascht gewesen sein. Allen Anwesenden war die Vorstellung der sehr freien Interpretation des Romans von Oscar Wilde sicherlich ein Denkanstoß.

„Jugend! Jugend! Es gibt nichts auf der Welt als Jugend!“ ist der Leitspruch, um den sich das Stück dreht. Infrage gestellt wird er in Regisseurin Sabrina Glas‘ schonungsloser Analyse des heutigen Jugendwahns. Dorian Gray, der Mann, dessen Porträt an seiner Stelle altert, ist der schon sprichwörtlich gewordene perfekte Ausdruck dafür. Gray kann in Übermaß, Exzess und Zynismus leben und sieht dennoch jung und frisch aus.

Die drei Schauspielerinnen stellen alle in einzelnen Szenen Dorian Gray dar und spielen weitere wechselnde Rollen: So ist Katharina Wanivenhaus Dorians Porträt, Katrin Röhlig ist Lord Henry Wotton und der gealterte Dorian und Susanne Heigl ist Basil Hollward und Sibyl Vane. Zu Beginn des Stückes beschwören sie das „Lustprinzip“, die Lebensgier und die Jugend.

Im nächsten Moment verwandelt sich Susanne Heigl vor unseren Augen dank einer Bienenkorb-Perücke in Amy Winehouse, deren Doppelgängerin plötzlich „Recall!“ kreischt und darum bittet, sie zum ersten Wechsel des Spielortes zu begleiten.

MARKE MENSCH // DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY, 15.12.2011, galerie ak1, Stuttgart

Foto: Patricia Werries

Nach einem Raumwechsel sieht man Amy, die nun mit Dorians erster Liebe Sibyl Vane verschmilzt, auf der Bühne „Will You Still Love Me Tomorrow“ performen, während der alte Dorian und sein Abbild sie aus der Ferne bewundern, bis sie schließlich merken, dass auch der geliebte Star nicht perfekt ist. Dass sie die einst Geliebte verstoßen, führt zu den ersten Veränderungen auf dem einst perfekten Porträt. Dorian ist auf der Suche nach Perfektion. Während er sich besonders kunstvoll selbst inszeniert, indem er seine Stärken aufzählt und sich nebenher Massen an goldenem Glitzer ins Gesicht reibt, sieht man zugleich, wie er sich selbst kaputt macht, indem die vorher mühevoll aufgebaute Selbstinszenierung komplett zerstören. Man sieht Dorian sich in Wollust, Völlerei und Trägheit ergehen, bis schließlich Basis Hollward auftritt und nach Dorians Seele fragt. So wird der Besucher schließlich zusammen mit dem Maler aufgefordert, Dorian zu dem Porträt zu folgen, das all die Spuren von Dorians Lebenswandel trägt. Wir werden durch einen Raum geführt, der über und über von Plakaten mit Aufschriften wie „Like me“ oder „Love me“ behangen ist.

In der letzten Szene, gelangt Dorian schließlich zu der Einsicht: „Hässlichkeit macht die Dinge wirklich“, und kann Spuren des Alters zeigen.

Erschreckend realistisch wird den Zuschauern vor Augen geführt, wie oberflächlich und materialistisch sich unsere Gesellschaft verhält. So legt uns beispielsweise der junge Dorian (hier: Susanne Heigl) auf sehr ironische Weise die Schönheitsmerkmale von Mann und Frau dar, es werden Fernsehshows parodiert, Deutschland sucht den Superstar, Germany’s Next Topmodel, die Sucht nach Selbstbestätigung, ein Aufritt von Amy Winehouse. Einige Zuschauer lachen, so lange, bis ihnen durch den Kopf schießt: „Moment mal! Das ist nicht lustig! Das ist traurige Realität in unserer oberflächlichen Gesellschaft.“

Auch müssen der ältere Dorian (hier: Katrin Röhlig) und sein Abbild (Katharina Wanivenhaus) die schmerzliche Erfahrung machen, dass auch ihre hochstilisierten Stars nicht perfekt sind, nicht perfekt sein können.

Jeder Schritt der Perfektionssucht Dorians wird von den drei Darstellerinnen und dem Musiker Steven Walter, welcher dem Stück mit surrealen Cello-Klängen den nötigen Nachdruck verleiht, unglaublich gut gespielt. Man nimmt ihnen die Rollen vollkommen ab, man ist gefangen genommen von ihrer Spielweise. Eine große Rolle spielen hier sicherlich die Kostüme sowie das Bühnenbild, welche von Katrin Wetzel konzipiert wurden. Sehr einnehmend ist zudem der wiederholte Spielraumwechsel, man läuft durch die ganze Galerie, um zur nächsten Szene zu gelangen. Dies und die Tatsache, dass die Spieler auf keiner Bühne stehen, sondern auf derselben Ebene wie die Zuschauer, verleiht dem Theaterstück eine ganz persönliche Atmosphäre, man lässt sich deshalb vollkommen darauf ein.

Vielleicht wäre die ganze Inszenierung „nur“ ein gutes Theaterstück, würde es nicht so schonungslos unsere – bedauernswerte – Denkweise offenlegen. So sind beispielsweise die „Schönheitsmerkmale einer Frau“ sowie auch jene des Mannes beinahe wortwörtliche Zitate, welche im Internet zu finden sind. Zunächst sinnlos erscheinende Worthülsen des alternden Dorian stellt sich bei Recherche als leicht verkürztes Zitat aus einer tatsächlich gehaltene Rede des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank AG, Josef Ackermann, heraus: „Die […] Krise […] ist das Epizentrum der aktuellen Erschütterungen“, heißt es da. Und natürlich ist Altern auch finanziell etwas Unschönes …

Persönlichkeit hat keine Bedeutung mehr in unserer Gesellschaft, was zählt, ist das Aussehen. Die Inszenierung lässt uns über diese Attitüde nachdenken, über das, was wir alle mittlerweile als selbstverständlich verinnerlicht haben. Aber: Den perfekten Menschen gibt es nicht. Wir alle müssen umdenken. Um es mit den Worten Dorians zu sagen: „Hässlichkeit macht die Dinge wirklich.“

Hat man anfangs noch das Gefühl gehabt, der Abend würde eine verstörende Psycho-Nummer werden, merkt man bald: Der Abend hat tatsächlich etwas Verstörendes. Allerdings ist es keine Psycho-Nummer. Nein, viel schlimmer: Er zeigt die Realität.

MARKE MENSCH // DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY, 15.12.2011, galerie ak1, Stuttgart

Foto: Patricia Werries

Weitere Aufführungen:
18.12. und 19.12.: galerie ak1, Stuttgart, Firnhaberstraße 1
30.12. und 31.12.: Galerie 13, Esslingen, Weberstraße 13.

Ein Gedanke zu „MARKE MENSCH // DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY, 15.12.2011, galerie ak1, Stuttgart

  • 22. Dezember 2011 um 00:14 Uhr
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    Leonie wir danken Dir für diesen sehr gut beobachteten und treffenden Bericht – Zitat Regie: „…und das ohne Rückfragen / Interview ….. Respekt ! gut recherchiert !

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