SEPULTURA , A TRAITOR LIKE JUDAS , AN ACT OF GRACE, 19.07.2011, Röhre, Stuttgart

Sepultura, 19.07.2011, Röhre, Stuttgart

Foto: Sue Real

Auf dem Dire Straits-Album „Brothers in Arms“ von 1985 singt Marc Knopfler:

Now look at them yo-yo’s that’s the way you do it
You play the guitar on the MTV
That ain’t workin’ that’s the way you do it
Money for nothin’ and chicks for free
Now that ain’t workin’ that’s the way you do it
Lemme tell ya them guys ain’t dumb

Knopfler schrieb den Song gemeinsam mit Sting. Gönnen sich die Stars da ein wenig ironische Selbstkritik, weil sie so wenig Kraft in ihre Arbeit stecken müssen? Andere Musik, zweieinhalb Jahrzehnte später sieht das anders aus. An Act of Grace und A Traitor Like Judas, die Vorbands von Sepultura, müssen eine ganze Menge Kraft aufbringen, um die träge Masse in der Stuttgarter Röhre in Bewegung zu versetzen.

An Act of Grace, 19.07.2011, Röhre, Stuttgart

Foto: Sue Real

Was An Act of Grace erreichen sollen, ist die Publikumsmasse, anfangs noch im Ruhezustand auf volle Pulle zu bringen. Zu diesem Zweck legen die Jungs, die teilweise ein bisschen aussehen, als wären sie einer amerikanischen High School entsprungen, selbst schon mal einen Menge Bewegung vor. Kaum haben sie ihren Math– oder Deathcore-Motor angeschmissen, fegen sie über die Bühne, dass ihnen jeder zweite Hausarzt eine Ritalin-Kur verpassen möchte. Kein Wunder auch, in Wirklichkeit kommen die von keiner High School, sondern sind einem Stuttgarter Gelege entschlüpft. Während Goldkehlchen Christian Schichl sich die Seele so aus dem Leib keift, dass man kein Wort verstehen kann, folgen abwechlungsreiche brettharte Riffs auf Breaks und wieder Riffs. Das grooved auch mal ein bisschen.

Bewegung ist eine Menge da. Leider nur auf der Bühne. Das Problem sind die Trägheit dieser Masse, die hohe Zielgeschwindigkeit und die geringe zur Verfügung stehende Zeit. Da muss viel Kraft rein gesteckt werden. Kraft = Masse x Geschwindigkeit / Zeit. Am Ende wird wesentlich mehr als ein Kopfnicken in den vorderen Reihen nicht herauskommen. Dennoch lässt die Band nichts unversucht. Auch Dehnübungen sind zu sehen, etwa wenn es darum geht, wie weit Bassist Marcel Schürrle seine Finger auf dem Griffbrett spreizen kann. Zwischen häufigen Rhythmuswechseln werden auch klare Gitarren in die verzerrten Riffs hinein gespielt. Das klingt ganz originell. Originell soll es wohl auch sein, dass die Band beim Bangen und Rumspringen immer wieder in abgesprochene synchrone Bewegungen verfällt. Das muss nicht sein, finde ich, ist doch ein wenig zu viel Aerobic und schadet dem sonst soliden Eindruck, erst recht, wenn dann zwei Gitarristen, Bassist und Sänger gleichzeitig auf der Stelle joggen.

A Traitor Like Judas, 19.07.2011, Röhre, Stuttgart

Foto: Sue Real

Auf der Stelle joggen kann aber auch Jesper Elter, der Sänger von A Traitor Like Judas aus Braunschweig. Dessen Stimme kommt zwar nicht so gut rüber wie jene von Christian Schichl, dafür versteht man mehr von den Lyrics. Vor allem will er den Kampf gegen die Trägheit der Stuttgarter Masse nicht verloren geben und lässt sich während des gesamten Sets ein Spielchen nach dem anderen einfallen, wie er die Masse in Bewegung versetzen kann. Hände heben und schwenken lassen ist da noch das harmloseste. Und einmal hätte es ja auch fast geklappt: Der Höhepunkt der Bemühungen, das Publikum zu metalartigem Verhalten anzuregen, erzeugte nämlich wenigstens kurz eine dichte Menschenansammlung vor der Absperrung: Zwei Mädchen braucht er für den Trick. Gewonnen, wie er sagt, haben Lena und Madita, die er dann auch zu sich auf die Bühne kommen lässt, um sie dann über der Menge bis ans hintere Ende der Röhre surfen zu lassen. Das klappt ganz gut: Madita ist schneller hinten, aber auch schneller wieder unten. Kaum jedoch ist das Spiel vorbei, ist es vor der Bühne wieder genauso locker bestellt wie zuvor.

Obschon der Math- oder Metalcore der Nordlichter noch deutlich mehr Druck hat, als was wir zuvor hörten, obschon die Trägheit des Publikums ganz deutlich dazu führt, dass die Musiker auf der Bühne noch mehr abgehen, und der Bassist Jan Knackstedt sein Instrument um sich wirbelt wie der Schlagzeuger seine Stöcke, obschon Jasper rumspringt wie ein Gummiball und nicht mal für seine umfangreichen Ansagen still stehen kann, obwohl Jan auch mal brüllt: „Stuttgart: Von nichts kommt nichts. Bewegt Eure Ärsche“, kommt auch hier nicht mehr als Kopfnicken bei einigen heraus – und es sind auch weniger als bei An Act of Grace. Klar, die Forderung: „Schmeißt die Haare“, kommt nicht so gut, wenn auf der Bühne alle kurzhaarig sind und der Sänger sogar einen Baseball-Kappe trägt. Als er dann noch ein Circle Pit will, zeigt ihm einer den Vogel. Naja, eine Sechs-Mann-laufen-in-Kreis-Polonäse wird dann doch noch draus.

Sepultura, 19.07.2011, Röhre, Stuttgart

Foto: Sue Real

Was passiert, wenn ein sehr schweres Objekt mit großer Geschwindigkeit auf eine kleine Masse im Ruhezustand trifft? Das kleine Objekt nimmt schlagartig eine ganze Menge Bewegungsenergie auf. Impuls = Masse x Geschwindigkeit. Und genau das passiert mit den Zuschauern in der Röhre als Sepultura wie eine 200.000 Tonnen Dampfwalze auf die Bühne rollen.

Um mal ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern: Ich mache mir ja immer ein paar Notizen, damit ich mir die Ansagen und so weiter besser merken kann. Meine vollständigen Notizen zum Sepultura-Auftritt lauten wie folgt:

Punkt 10 Intro Applaus
beim Betreten der Bühne stockfinster
– Arise-Intro + Arise
schon leicht angegraut der Paulo

Danach war Schreiben nicht nur unmöglich, sondern ich habe auch gar nicht mehr daran gedacht. Zumindest mein Bier konnte ich noch austrinken, bevor der Publikumstsunami vorne gegen die Absperrung brandete. Und das würde auch so bleiben bis zum letzten Ton.

Der Sound ist unglaublich fett und dreckig, druckvoll und heavy, wie man es von der Band erwartet. Vom Alter der Jungs, wie ihres einzigen verbliebenen Gründungsmitglieds Paulo Xisto Pinto jr., ist genauso wenig etwas zu merken wie beim Publikum, das durchaus einige Personen zeigt, die nur noch einen Haarkranz aufweisen. Für den Nachwuchs ist aber auch schon gesorgt: Ganz links vorne steht ein vielleicht Zehnjähriger mit seinem Vater, der für ihn die Knautschzone zwischen Pogo-Mob und Absperrgitter bildet. Die Stimmung ist bombig und die Band spielt nicht nur ein strammes Set mit jeder Menge guter alter – „Refuse/Resist“, „Territory“, „Inner Self“ – und neuer Songs – beispielsweise „Relentless“ –, sondern zeigt auch ganz viel Spaß an ihrer Arbeit: wie Andreas Kisser, der wiederholt seine Gitarre auch vom Publikum malträtieren lässt; oder Sänger Derrick Green, welcher die Ankündigung des Ministry-Covers „Just One Fix“ dazu nutzt, „Dust in the Wind“ anzustimmen, was von einigen im Publikum aufgegriffen wird. Auch Black Sabbath werden mit ein paar Riffs am Anfang der Zugabe geehrt.

Betrachtet man das Meer aus Pommesgabeln, das Gemosche und Gepoge, steht die Band auch in ihrem 27. Jahr noch da wie eine Eins. Klar, sie hat viel Publikumszulauf verloren, seit Max Cavalera 1996 ausstieg und Soulfly gründete. Aber die Performance des überaus sympathischen Derrick wirft deutlich die Frage auf, warum das eigentlich ein Problem sein sollte. Soulfly oder die Cavalera Conspiracy kann man ja trotzdem mögen. Die Band ist immer noch auf der Höhe. Auch die Sachen vom neuen Album, die gespielt werden, können absolut überzeugen. Sie hätten es sicherlich verdient, im größeren LKA gespielt zu werden. Hoffentlich wird die Band auch diesen wesentlich größeren Laden bald wieder voll bekommen. Die Bewegungsenergie, welche das Publikum von Sepultura in der Röhre verpasst bekommen hat, wird jedenfalls locker bis da rüber reichen.

Sepultura

A Traitor like Judas

An Act of Grace

3 Gedanken zu „SEPULTURA , A TRAITOR LIKE JUDAS , AN ACT OF GRACE, 19.07.2011, Röhre, Stuttgart

  • 22. Juli 2011 um 23:37 Uhr
    Permalink

    So weit koennen meinungen ausseinander gehen. Die gigs von an act of
    grace und a traitor like judas waren fuer mich erstklassig sowohl
    musikalisch als auch optisch. Nicht nur dass die jungs allesamt ihre
    instrumente beherrschen und ordentlich stimmung gemacht haben auch die
    saenger haben beide auf ihre art der musik ein gewisses etwas
    verliehen. Was der high school vergleich soll ist für mich unverstaendlich und trägt nichts außer blankem hohn zur kritik über das konzert bei, was somit völlig unangebracht ist.
    auch die abgestimmten bewegungen waren nicht nur originell sondern eine
    dynamische ergaenzung zu der teils sehr anspruchsvollen musik. Das
    publikum hat im uebrigen sehr positiv auf beide bands reagiert, die
    tatsache, dass es von publilumseite nur wenig bewegung neben bangen
    und groelen gab ist wohl einfach dem wunsch geschuldet bei der
    hauptband noch genurgend puste zu habem zumal das durchschnittsalter
    die teeniezeit laengst hinter sich gelassen hat. Zudem ist dein
    artikel schlecht recherchiert da der bassist marcel wie auf der
    bandseite erkennbar ganz anders aussieht als der bassist am dienstagabend.
    Auf nachfrage stellte sich heraus dass marcel krankheitsbedingt nicht
    spielen konnte. Ich fand dienstag einen sehr gelungenen musikalischen
    abend auch und gerade durch die beiden vorbands was auch durch
    publikumsreaktionen bestaetigt wurde. Deine unangebracht zynische
    kritik entspricht daher nicht dem breiten meinungsbild und ist damit
    leider ein sehr subjektiver journalismus. Daumen hoch fuer an act of
    grace und a traitor like judas! Ich freu mich schon auf ein naechstes
    mal.

  • 24. Juli 2011 um 01:36 Uhr
    Permalink

    Einstudierte Choreographien haben auf einem Metal-Konzert definitiv nichts zu suchen. Das wirkt dann doch mehr lächerlich als originell und dynamisch, wenn man eine Menge die auf Sepultura eingestellt ist, einheizen möchte. Da hätte man dann doch ganz schlicht bei der Hau-drauf Methode bleiben sollen. Alles in allem haben sich beide Bands definitv Mühe gegeben, waren aber meiner Meinung nach total fehl am Platz als Vorbands für Sepultura. Wäre als Headliner Caliban oder HSB aufgetreten, wäre die Publikumsreaktion sicherlich positiver ausgefallen.Publikums-Erwartung und Vorbands haben in diesem Fall einfach nicht zusammengepasst.

    Cheers

  • 24. Juli 2011 um 18:07 Uhr
    Permalink

    eine solche meinung möchte ich auch keinem absprechen, wenn du das so siehst ist das völlig ok und es gab vermutlich auch andere die es so sahen.
    es aber so darzustellen, als wäre das die meinung der breiten masse, finde ich unverschämt. das ist eben pressefreiheit im negativen sinn, weil eine subjektive beurteilung so meinungen manipulieren kann, weil sie so dargestellt wird, als handle es sich um eine objektive tatsache! es war eben ganz einfach so, dass die reaktionen des publikums zum großen teil positiv waren und das sowohl während der konzerte als auch danach durch applaus, mitbangen usw. und dann einzelne reaktionen wie das zeigen eines mittelfingers so darzustellen, als seien sie repräsentativ für die gesamte publikumsreaktion ist ganz einfach die wahrheit verdrehend.
    dass die beiden bands nicht zu sepultura gepasst haben stimmt definitiv. umso erstaunter war ich von den positiven reaktionen.
    ob eine metalband nun ne choreographie zeigen sollte oder nicht ist, wie ich finde ansichtssache. es gibt leute denen es gefällt, anderen gefällt es nicht. ich finde (und wiederhole mich damit), dass es bei an act of grace die musik, die präsenz und damit den gesamtauftritt auf positive weise unterstützt hat. und gerade wenn es in der metal-szene unüblich ist, wieso nicht einfach mal was neues wagen, sind doch oft die unpopulären innovationen die am ende begeistern.

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