BLACK LABEL SOCIETY, BUCKCHERRY, ARCHER, 20.06.2011, LKA, Stuttgart
Um sein Land an den Westen anzubinden, ließ Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der Türkei, 1927 anstelle der arabischen eine auf der lateinischen basierende Schrift für das Türkische entwickeln. So entstand das Neue türkische Alphabet, das sich nur durch wenige Buchstaben von unserem unterscheidet. Das Problem bei der Anpassung eines fremden Schriftsystems an eine neue Sprache aber besteht immer darin, dass jede Sprache eigene Klänge hat, für welche es vielleicht noch kein passendes Zeichen gibt. Neue Buchstaben müssen erfunden werden – deswegen haben wir ja auch unsere Umlaute. Auf diese Weise wurde in das Neue türkische Alphabet ein Buchstabe eingeführt, der zugleich ein Phänomen abbildet, das gar nichts mit Sprache zu tun hat, sondern eine Alltagserfahrung widerspiegelt, die ich auf dem Konzert von Archer, Buckcherry und Black Label Society im Stuttgarter LKA mal wieder machen musste: Die Türken haben nämlich ein ı , bei dem das Tüpfelchen fehlt.
Trotzdem: Das Highlight des Abends ist sicherlich der Moment als Zakk Wylde, Sänger und Lead Gitarrist der Black Label Society, irgendwann in der Mitte des Sets ans Mikro tritt und uns – ganz folgerichtig im Sinne der ganzen Rocker-Ästhetik der Band – als das „Stuttgart Chapter of the Black Label Society“ begrüßt. Da tobt vorne der Mob. Klar, nicht zu vergessen auch Zakk Wyldes unverzichtbares Gitarren-Solo drei Songs später, bei dem er erst an seinem angestammten Platz in der Mitte der Bühne drauflos frickelt, was das Zeug hält, und die Übung nacheinander am rechten und linken Bühnenrand nochmal wiederholt. Eigentlich sind es ja drei vollkommen eigenständige Soli, die er da spielt, von denen das dritte meines Erachtens das Beste ist. Die Publikumsreaktion ist hier aber teilweise entgegengesetzt zu seinem Chapter-Spruch: Einer schreit sogar: „Jetzt hör aber auf!“ Ansonsten nimmt das Publikum das Solo wohl eher als kleine Pause wahr, denn das Gedränge an der Bar und die Schlange vor der Toilette werden plötzlich größer.
28.536 Noten später fliegen uns dafür wieder von Südstaatenrock beeinflusste Riffs um die Ohren. Damit das gelingen kann, kommt die Band auch daher wie ein „Gitarrenladen auf Tour“, wie eine Besucherin feststellt: 16 Marshall-Top Teile und 21 Marshall 4 x 12“-Boxen bilden den Bühnenhintergrund, sodass vom Backdrop in der niedrigen Halle wenig zu sehen ist. Hinzu kommt eine Auswahl an Gitarren, die sich gewaschen hat. Die weiß Zakk Wylde auch zu gebrauchen. Die technische Meisterschaft ist unbestritten. Und auch an den kompositorischen Fähigkeiten des ehemaligen Ozzy Osbourne-Gitarristen und -Songwriters, der unter anderem Writing credits für dessen meistverkauftes Album „No more Tears“ hat, hapert es nicht. Allein: Es kommt halt nicht rüber. Ich kann schlecht sagen, woran es liegt. Es ist aber eine Erfahrung, die ich auch schon bei Bands mit ähnlicher Musik – bei Down etwa – gemacht habe. Man hat einen fetten Sound, aber es fehlt eben das Tüpfelchen auf dem ı. Alles klingt viel zu gleichförmig. So habe ich auch Schwierigkeiten, besonders viele Stücke zu erkennen. Gut, zum Sound kann man vielleicht anmerken, dass ich schon von Anfang an dachte, dass der Gesang zu leise gemischt war – und das liegt nicht daran, dass Zakk Wylde heute nicht gut bei Stimme ist, wie uns ein Photograph der US Army mitteilt. Es war irgendwie das Gefühl, dass man zwar von einer immensen Schallwelle umgeben ist, aber dennoch nichts hört. „… und auch die sozialkritischen Texte“, höre ich im Nachhinein noch jemanden sagen, „ich hab‘ kein Wort verstanden.“
Auch das Genuschel von Archer Sänger und Gitarrist Dylan, der ebenso wie Zakk Wylde aus Kalifornien stammt, ist kaum zu verstehen – aber lauter. Die Jungs, die sich in ihrer Bandbio als „future of rock“ bezeichnen, spielen klassischen Metal, der soundmäßig an die Megadeth der frühen 1990er Jahre erinnert, aber geradliniger daher kommt. Besonders innovativ ist das nicht, auch finde ich die Band auf Dauer etwas eintönig. Beachtenswert ist allerdings der Bassist. David nämlich zeigt spielerische Fähigkeiten, die ihn eigentlich für wesentlich Anspruchsvolleres prädestinieren, sei es, indem er munter vor sich hin tappt oder die Begleitung nur aus Flageoletts aufbaut. So können wir uns aber immer noch an einer Partymusik erfreuen, bei der uns ein Solo nach dem anderen um die Ohren gefetzt wird – und zwar auch vom Schlagzeuger Ferret, so viel Zeit muss auch bei einer Vorband sein. Tüpfelchen auf dem ı? Auch hier Fehlanzeige.
Bei Archer ist die Publikumsreaktion verhalten, aber zumindest schnappe ich keine negativen Äußerungen auf. Anders bei Buckcherry, die beinahe Anlass für eine Studie der Gezeitenströmungen geben. Vor den ersten Tönen der Band steht draußen alles voll mit Rauchern, lasse ich mir später von einem Flyer verteilenden Vor-Ort-Korrespondenten erläutern. Dann wird es fast völlig leer, als alle zur Bühne gehen. Kurze Zeit später ist es wieder fast so voll, wie bevor die Band die Bühne betreten hat. „Die Musik geht überhaupt nicht“, soll jemand gesagt haben. So schlimm ist es sicherlich nicht. Mit ganz ähnlicher Musik haben Guns n’Roses in den 1990ern Millionen verdient. Und in der Tat ähnelt sich nicht nur die Musik, auch Sänger Josh Todd klingt an einigen Stellen Alx Rose verflucht ähnlich. Aber die Musik ist nicht die einzige Hinsicht, in welcher Buckcherry das Publikum spalten. Doch dazu später.
Zunächst muss festgestellt werden, dass Buckcherry hier ein ordentliches Hard oder Sleaze Rock-Set durchziehen, mit allem was dazu gehört. Das fängt bei der Bekleidung an, etwa den abgetragenen Klamotten aller oder den Stirnbändern des linken Gitarristen und des Sängers. Das geht weiter beim wilden und seltsamen Herumgehüpfe und Hüftengeschwinge des letzteren, bei dem man gleich an die Performance so mancher Band denken muss, die eher auf dem Bang Your Head auftritt. Und das schließt natürlich den deutlich rockigen Sound mit seinen eingängigen Melodien und Strukturen ein. Falls noch etwas fehlt, gibt es auch Gesten: angedeuteten Sex beispielsweise bei „Crazy Bitch“. Dieser Song zeigt übrigens auch gleich die klischeehaften Lyrics, die wir zu hören bekommen, wenn es nicht gerade heißt „It’s a Party“, nämlich: „You’re crazy / But I like the way you fuck me“.
Die Frauen im Publikum nehmen das ganz gut auf. Vor allem sind sie es, die man bei Ruf-und-Antwort-Spielchen zu diesem Song schreien hört „Crazy Bitch, Crazy Bitch“. Ich persönlich finde was die Band da macht ganz unterhaltsam, mehr aber auch nicht. Aber bitte, es gibt begeisterte Fans. Interessant finde ich dagegen die Wirkung des Körpereinsatzes der Musiker. Beim zweiten Song ist der rechte Gitarrist schon oben ohne, beim dritten auch der Sänger. Der ist so sehr tättowiert, dass es nicht nur schwierig wird, noch eine freie Stelle zu finden, sondern sich auch jemand die Mühe gemacht hat, bei Wikipedia eine Liste rein zu stellen. Zeit zum Trainieren scheint im auch nicht zu fehlen. Aber ob das jetzt als Aphrodisiakum wirkt? Ich höre jedenfalls nachher ein Mädchen sagen: „Die Musik war schon gut. Aber er hätte wirklich nicht seine Weste ausziehen dürfen. Das war zu viel. Da sind wir dann raus gegangen.“ Wieder ein ı ohne.
Das Publikum in den Griff bekommt dann erst Zakk Wylde. Dazu reicht es schon, wenn der vor der Bühne aufgezogene Vorhang fällt und er mit riesigem Federschmuck den Obermaxe macht. Die machen das schon alles richtig: Viel Bier, viel Bart, viel Spielfreude. Mal fliegen riesige Bälle ins Publikum, die von der Menge dann immer wieder hochgestoßen werden. Es wird gerockt, und bei jedem Song die Gitarre getauscht. Die hat dann schon auch mal zwei Hälse – aber paritätisch dann nicht nur die des Leadgitarristen, sondern auch jene seines „Evil twin“, wie Zakk Wylde ihn nennt. Alle diese Gitarren zeigen entweder das Bull’s Eye– oder das Buzz Saw-Muster von Zakks Custom-Gibsons, mal als Les Paul, mal als Flying V, sogar als Graveyard Disciple oder in freier Form. Wenn man als Gitarrist bekannt genug ist, bekommt man das scheinbar nachgeschmissen. Die machen das schon alles richtig: Ganz offensichtlich ist da eine große Rockshow nach Stuttgart gekommen. Nur zünden will es halt nicht, ich weiß nicht woran es liegt. Es ist halt wie bei Atatürks Neuem türkischen Alphabet: Da fehlt das Tüpfelchen auf dem ı.
Black Label Society
Buckcherry
Archer
Der Federschmuck und die Gips-Totenschädel am Micro-Ständer – das gibt Abzug ohne Ende, das hätte ich ihm nicht zugetraut.
Schöne Eınleıtung!
Kopfschmuck hin oder her, Zakk wäre z.Zt. einer der ganz wenigen Gitarristen, die mich dazu bringen würden, wegen seiner Fingerfertigkeiten zu einem Konzert zu gehen. Alleine wie er die Gitarre pfeifen lässt…
Super Hook am Anfang, interessanter, kompetenter Bericht mit jeder Menge Hintergrundinfos, was will man mehr. Erste Sahne, Claus!
Grüßle …
Jo