STÖRFALL. NACHRICHTEN EINES TAGES (Christa Wolf), 26.04.2011, Scala, Esslingen

Lesung: Störfall. Nachrichten eines Tages

Foto: Promo

So etwas geht natürlich nur im Freien Theater. Denn nur hier kann man spielzeitunabhängig auf aktuelle Ereignisse reagieren und schnell ein Stück auf die Bühne bringen. Diese Möglichkeit gegeben folgt der Theatermacher natürlich auch seinen Impulsen. Impulsen wie jenem, der uns in den frühen Morgenstunden des 12. März erreichte, als es zu einer Explosion in Block 1 von Fukushima 1 kam. Aus der Tschernobyl-geplagten Generation Ü30 saß sicherlich nicht nur ich schreckstarr vor dem Echtzeitmedium der Wahl.

Dass ein kreativer Mensch wie die Regisseurin Sabrina Glas hier sofort über das Potential einer künstlerischen Umsetzung nachdenkt, ist wenig erstaunlich. Zupass kam es ihr da natürlich, dass ziemlich genau 25 Jahre zuvor ein anderer kreativer Mensch einen ähnlichen Gedanken hatte: Christa Wolf nämlich, damals noch DDR-Bürgerin, schrieb unter dem Eindruck der Ereignisse in Tschernobyl in den Tagen nach der Katastrophe die Erzählung „Störfall. Nachrichten eines Tages“. Für die Theatermacherin Sabrina Glas standen zwei Dinge sehr schnell fest: Erstens wollte Sie den Wolf-Text inszenieren, und zweitens war die fünfundzwanzigste Jährung der Katastrophe von Tschernobyl nur vier Wochen später ein zwingender Termin.

Steven Walter und Simon Hartmann spielen ein Duett für Violoncello und Kontrabass, als die Türen des Saales an diesem Jahrestag dann geöffnet und die Zuschauer über die Bühne auf die Ränge des ehemaligen Kinosaales geschleust werden. Durch dieselbe Tür treten auch die drei Schauspieler auf. Und was dann folgt, ist, wenn man den Text betrachtet eine Theateradaption, wenn man aber die Inszenierung betrachtet, eher eine szenische Lesung des Textes von Christa Wolf. Dieser stellt eigentlich einen Monolog dar, welchen die Ich-Erzählerin an ihren Bruder richtet, der, weil er sich einer Operation am offenen Gehirn unterziehen muss, die Nachrichten aus Tschernobyl noch nicht mitbekommen hat. Von Sabrina Glas jedoch wurde der Text in einer sensiblen Bearbeitung unter leichten Kürzungen und gelegentlichen grammatikalischen Anpassungen auf drei Personen verteilt. Während sich die tatsächlichen Eingriffe zurückhalten, ist der Effekt groß, denn die Protagonistin, gelesen von Katrin Röhlig, erhält von ihrem Bruder (Ferdinand Rother) einen Widerhall auf ihre Bedenken und Ängste, während uns Vladislav Grakovskiy lapidar so sachlich-unterkühlte wie lebensferne aber wissenschaftlich fundierte Aussagen zu den Ereignissen einstreut.

Klar, die Wissenschaft versuchte vor der Katastrophe, uns die Sicherheit ihres Unternehmens zu suggerieren, und nun, danach, versucht sie es wieder. Und genau wie die Fernsehwissenschaftler in Christa Wolfs Erzählung tritt dieser hier mit grauem Anzug, passender Krawatte und – als Marshall-Stab beim Gestikulieren stets in der Hand geführtem – Füller auf, in allem darauf bedacht Seriosität auszustrahlen, während die Erzählerin, nur im Pullover, durch emotionale Intelligenz punktet. Bei einer technischen Katastrophe müssen indes die Wissenschaftler zumindest in einem Punkt die Säulenheiligen bleiben: Denn sie sind die Einzigen, die uns jetzt noch mit Gegenmaßnahmen und einer Risikoabschätzung dienen können. Auch bei Christa Wolfs Text liegt einer der Knackpunkte dann freilich im Einräumen des stets bleibenden Restrisikos der atomaren Hochtechnologie, welches uns zuletzt Gerd Antes so unterhaltsam wie unmissverständlich vorgerechnet hat. Um es mit Christa Wolf zu sagen: „Was nach Aussage der Physiker höchstens einmal in 10 000 Jahren hätte geschehen können, ist jetzt geschehen. Zehntausend Jahre sind eingeschmolzen auf diesen Tag.“

Aber der Text zieht nicht nur zur Atomenergie seine Schlüsse, sondern führt uns unseren Umgang mit wissenschaftlichen Möglichkeiten und den dabei jeweils auftretenden Risiken in unterschiedlicher Weise vor Augen, indem den Katastrophenereignissen das bange Warten während der schlussendlich erfolgreich verlaufenden Operation am Gehirn des Bruders entgegengestellt wird. Denn auch dort bestehen erhebliche Risiken: Zu nahe am Sehnerv liegt der betroffene Bereich, der Verlust des Augenlichts, vielleicht auch des Geruchssinns, möglicherweise durch Schädigung des Frontallappens entstehende Persönlichkeitsveränderungen drohen. Wie geht man angesichts einer Krebserkrankung mit diesen Risiken um?

Unter dem Strich bleibt in jedem Fall die Abhängigkeit von den Fachleuten, ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen. Der Ottonormalbürger kann eine Atomkatastrophe ignorieren oder wie ein Kaninchen vor dem Räuber davor erstarren, will er aber etwas tun, braucht er dieses Wissen. Und damit komme ich auf den Punkt, der für mich an diesem Abend in Esslingen am eindrücklichsten war: Die dargestellte Hilflosigkeit der Protagonistin entspricht genau der Hilflosigkeit 1986. Genau solche Fragen hatten sich auch meine Eltern gestellt, Fragen wie, ob es nun besser wäre, mich abzuduschen, wenn ich von der Schule heimkomme, weil man so eventuellen radioaktiven Schmutz beseitigen könne, oder ob man das gerade nicht tun soll, weil dieser dann leichter durch die aufgeweichte Haut dringen könne. Oder sind das nur alles sinnlose Überlegungen? Und noch ein Eindruck deckt sich mit meiner Erinnerung. Sabrina Glas legt diese Worte dem – wie eine noch unberührte Leinwand – ganz in weiß gekleideten Bruder in den Mund: Auf dem Balkon zu essen, das selbstgezogene Gemüse aus dem Garten, frischen Salat. Alles passé, während augenscheinlich der Frühling explodiert wie immer. Mir klingt da irgendwie „Red Skies Over Paradise“ von Fischer-Z in den Ohren.

Im Anschluss an die eintrittsfreie szenische Lesung, bei welcher aber Spenden für den Verein Leben nach Tschernobyl e.V. gesammelt wurden, fand noch ein Publikumsgespräch mit Andrea Lindlohr, MDL, statt. Darin ging es um die Frage, wie lang eine Technologie denn noch eingesetzt werden könne, die seit 25 Jahren als Brückentechnologie bezeichnet wird, und ob es sich bei der deutschen Haltung zur Atomenergie eher um German Angst oder um eine gesunde Diskussionskultur handele.

Bleibt mir freilich noch darauf hinzuweisen, dass von Sabrina Glas demnächst das Kinderstück „Der Gärtner“ von Mike Kenny und die Oscar Wilde-Inszenierung „Marke Mensch // Das Bildnis des Dorian Gray“ zu sehen sein werden, während die Musiker des Abends ab heute auf dem Podium Festival in Esslingen auftreten werden. Christa Wolfs Erzählung „Störfall. Nachrichten eines Tages“ ist unter anderem im Suhrkamp Verlag erschienen.

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