PAUL BONATZ 1877 – 1956, 25.03.2011, Kunsthalle, Tübingen
Bahnhöfe sind Orte der Begegnungen. Man fährt weg von einem Ort und seinen Menschen, hin zu Neuem, und (wenn’s der Heimatbahnhof ist) wieder dahin zurück. In meiner Schatzkiste der Erinnerungen spielt mein Bahnhof eine große Rolle: der Stuttgarter Hauptbahnhof. Entworfen und gebaut nach den Plänen von Paul Bonatz. Ein mächtig, geschichtsträchtig wirkender Bahnhof, der immer wieder am Anfang und am Ende vieler Kämpfe in meinem Leben stand. Und der nun bekanntlich, um den Nordflügel bereits amputiert, dem unterirdischen Größenwahn, ohne Plan, großteils weichen soll. Deshalb zieht es mich heute in die Kunsthalle Tübingen. Dort ist, nach vielen politischen Auseinandersetzungen, die große Retrospektive zu sehen: Paul Bonatz 1877 – 1956, Leben und Bauen zwischen Neckar und Bosporus.
Bei der Eröffnung anwesend, Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. Er ist (wie auch der stellvertretende Kurator der Kunsthalle Daniel Schneider) erst einmal bemüht, die politischen Wogen zu glätten. Nein, diese Ausstellung sei unabhängig von den Protesten gegen Stuttgart 21 entwickelt worden, nämlich zum 100 jährigen Jubiläum der damals von Bonatz gewonnen Ausschreibung für den Stuttgarter Bahnhof. Auch der Ausstellungsort Tübingen sei immer so vorgesehen gewesen. Denn hier steht ein weiteres großes Baukunstwerk von Bonatz, die Tübinger Universitätsbibliothek. Man kann das so glauben oder auch nicht. Der Bezug der Ausstellung zu Stuttgart 21 ist allein dadurch schon gegeben, dass im zentralen Ausstellungsraum Steine des abgerissenen Nordflügels wie ein Mahnmal stehen. Auch greift Boris Palmer einen Satz des Kurators auf und bezieht ihn dann doch auf Stuttgart 21: „Wenn Tübingen der intellektuelle Vorhof von Stuttgart ist, dann ist dies der richtige Ort, um inspiriert von Paul Bonatz darüber nachzudenken, ob man in Zukunft nicht lieber erst denkt, und dann baut!“
Bei meinem Rundgang durch die Ausstellung denk ich an diesen Satz. Paul Bonatz war ein sehr rationaler und funktionaler Baumeister. Die Neckarstaustufen zwischen Stuttgart und Heidelberg (1927-33), der Stuttgarter Zeppelinbau (1919-1931), das Kunstmuseum Basel (1932-1936), die Oper in Ankara (1947-1948), sein Hauptbahnhof: alles folgt dem Prinzip von Funktionalität und Rationalität. Palmer hat in seiner Rede auch den Gedanken aufgeworfen: „Wer hat eigentlich heute die Deutungshoheit über das, was modern ist?“ Eine so faszinierende Zugkapazität wie mit dem alten Bahnhof zu haben (seit nun mehr fast hundert Jahren), kann bei näherem Nachdenken auch dazu führen, dass man das “Alte“ im Vergleich zum “Neuen“ für moderner hält – weil schlicht funktionaler. Fortschritt verdient seinen Namen nicht, wenn er Rückschritt bedeutet.
Der Hauptredner des Abends ist Wolfgang Voigt vom Deutschen Architekturmuseum. Er hat in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern aus dem Nachlass von Bonatz und mit Exponaten aus aller Welt, diese sehr komplexe und detailgenaue Ausstellung entwickelt. Ihm ist es wichtig, dass Paul Bonatz nicht nur auf seinen Bahnhofsbau reduziert wird, wenngleich dieser sicherlich sein Hauptwerk ist. Paul Bonatz ist Begründer der Stuttgarter Schule, der wichtigsten Architekten-Schmiede in der Zwischenkriegszeit. Er gilt in der Architekturgeschichte als Vertreter der Gemäßigten Moderne, in deutlicher Abgrenzung zum Bauhaus. Seine Architekturvorstellung betonte immer den regionalen und naturverbundenen Ansatz. Gleichzeitig war er Kosmopolit und ließ sich gerne von fremden Einflüssen inspirieren. Nach eigener Aussage inspirierte Bonatz eine Ägyptenreise für die Hallen des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Ein Hauch von islamischem Sakralbau ist dort zu spüren.
Wenn man sich mit Bonatz beschäftigt, kann man nicht an der Tatsache vorbei, dass er erst spät Albert Speer (und damit dem menschenverachtenden, nationalsozialistischen Baugrößenwahn) entsagt hat. Wolfgang Voigt betont, dass Bonatz als einzig bekannter Architekt in der Novemberrevolution 1918 aktiv war. Auch, dass er 1933 von der Gestapo bedrängt wurde, weil von ihm ein regimefeindlicher Satz bekannt wurde. Er hatte verlautbaren lassen, dass Hitler Deutschland um hundert Jahre zurück werfen werde. Schließlich aber wollte er an der nationalsozialistischen Bautätigkeit unbedingt teilnehmen und bemühte sich um Aufträge. Außer für Reichsautobahnbrücken gelang ihm dies aber nicht. 1944 schließlich, entsetzt von dem immer ausschweifenderen Gigantismus der Nazi Architektur, verließ er Deutschland in Richtung Türkei und kehrte von dort erst kurz vor seinem Tod wieder nach Stuttgart zurück.
Dem Wirken von Bonatz in der Türkei wird in der Ausstellung viel Raum gegeben. Er war dort Hochschullehrer, Regierungsberater und als Architekt sehr aktiv. Sehr imposant sein Entwurf für eine Brücke über den Bosporus (1951/52), die leider nicht realisiert werden konnte. Insgesamt sind viele Skizzen, Baupläne und Modelle zu sehen, die das Herz jedes Architekturinteressierten höher schlagen lassen. Am beeindruckendsten für mich: eine große Skizze mit dem Stuttgarter Hauptbahnhof einerseits und dem von den Nazis geplanten Kuppelbau des Münchner Hauptbahnhofs andererseits – im gleichen Maßstab. Unser Hauptbahnhof wirkt da klein und friedlich.
Dennoch bleibt für mich der Eindruck, dass Bonatz einen Hang zur Überhöhung besaß. Zum Beispiel mit der Aufgangstreppe im Haupteingang des Stuttgarter Bahnhofs. Da schaut ein martialischer Krieger auf den Zugreisenden herab. Mit bestechendem Blick. Er war wohl motivierend gemeint, für den Wahnsinn des Ersten Weltkriegs, der Urkatastrophe Europas. In dieser Hinsicht war dieser Treppenaufstieg für mich auch immer eine Erinnerung an die dunklen Kapitel unserer Geschichte. Solche Erinnerungen in einer Stadt manifestiert zu haben ist wichtig, weil geschichtslos gemachte Orte banal sind. Und meinen Kämpfen verlieh dieser Aufgang zur Bahnhofshalle oft, die nötige Relativierung – in Anbetracht des großen Flusses der Zeit.
Außerdem war der Bahnhof von Bonatz eben auch als Begegnungsstätte gedacht, damals eher zeitunüblich. Fraglich mal zumindest, ob der geplante Untergrundbahnhof je dieser Aufgabe vergleichbar gerecht werden kann. Denn Bonatz hat mit seinem funktionalen Konzept und den großzügigen Bogenhallen einen besonderen Raum geschaffen, irgendwo zwischen perfekter Gleisführung und erhebender Größe, irgendwo zwischen Markthalle und Kathedrale. Moderne Funktionalarchitektur sieht dagegen immer irgendwie austauschbar aus. Das Zusammenkommen von Funktionalität und einer ganz eigenen Charakteristik, das macht die eigentliche architektonische Faszination dieses Architekten aus.
Beim Verlassen der Ausstellung gehe ich noch mal an einem großen Bild des Hauptbahnhofs vorbei. Dort steht er noch, der Nordflügel. Erschreckend, wie schnell manche Dinge Geschichte sind.
Die Ausstellung ist zu sehen, vom 26. März bis 22. Mai 2011.
Danke für den hervorragenden Artikel! Wenn man in Stuttgart aufgewachsen ist, findet man den alten Bahnhof nicht notwenigerweise schön, aber auch ich fühlte mich bei Zugreisen immer schon am Bahnhof wieder zuhause, nicht erst in den eigenen vier Wänden. Interessant noch (aber das habe ich nur aus zweiter Hand): Der alte Bahnhof soll (inflationsbereinigt!) keine 50 Millionen gekostet haben!
Lieber Cousin!
Deine Art zu (be)schreiben gefällt mir! Bitte mehr davon. Über das Reisen – Abfahren und Ankommen – könnte man noch weiter philosophieren… ;-)
Für mich auch traurig zu beobachten hier in der Region: viele still gelegte Bahnhöfe, deren Individualität ihren Charme ausmacht(e). Nun sind sie oft zweckentfremdet als Lagerplatz. Oder ihre alten Mauern müssen geduldig Träger sein für allerlei überflüssige Werbeplakate und -plaketten. Lieber Gruß aus dem Hohenlohischen!
Eine gelungene Darstellung der Ausstellung, Bahnhöfe sind für mich eine Art Heimat geworden. Ich liebe sie. Ist das Leben doch eine Reise von Station zu Station. Der Stuttgarter Bahnhof mag einem nun gefallen oder nicht: der Kommentator hat in Bezug auf die Funktionalität recht. Der Neubau ist als Bau vielleicht modern, doch ist der Brückenschlag zwischen Vision und Funktion nicht gelungen und so muß das Gedankengebäude des Architekten von Heute einstürzen und Meister wie Bonatz die keine Kompromisse zwischen Kunst, Funktion und Auftrag eingehen mußten, sondern die Dinge unter einen Hut bekamen sollten wieder mehr Beachtung finden.
Sehr schöner Artikel!
Bei aller heutigen Bonatzverehrung muss man aber wissen, dass er der rechtskonservativen Architektengruppe „Der Block“ angehörte und mit Schmitthenner die Kochenhofsiedlung baute.
„Erklärtes Ziel war es, vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Machtübernahme ein bewusst traditionalistisches Gegenmodell zur nahe gelegenen, 1927 gebauten Weißenhofsiedlung zu schaffen.“ [Wikipedia]
Daher sieht das immer etwas grotesk aus, wenn Anti-S21-Demonstranten Bonatzpotraits vor sich hertragen.
So haben es andere gesehen:
https://www.swr.de/kultur/veranstaltungen/bonatz-ausstellung-tuebingen/-/id=3230/nid=3230/did=7804868/qkz4v9/index.html
https://www.tagblatt.de/Home/nachrichten/kultur/regionale-kultur_artikel,-Leben-und-Bauen-des-Meisterarchitekten-Paul-Bonatz-_arid,128990.html
Dieser Rüdel schreibt spannend wie immer.
Klasse auch das Einbringen des persönlichen Bezuges zum Bonatzbau.
Fast genauso interessant sind auch die Kommentare.
Weiter so !!!
Und dranbleiben:…oben bleiben !