(NEVERMORE), SYMPHONY X, PSYCHOTIC WALTZ, MERCENARY, 25.02.2011, LKA, Stuttgart
Als ich am 25. November um 12:28 gelesen habe, wer als Vorgruppe von Nevermore auf Tour kommen wird, habe ich ja meinen Augen nicht getraut: Psychotic Waltz steht da! Nachdem die Band 1997 wegen musikalischer und vor allem menschlicher Differenzen aufgelöst und damit „Schock, Trauer, blankes Entsetzen“ bei den Fans ausgelöst worden war, eine so unwahrscheinliche wie wünschenswerte Nachricht. Leider war im November im Internet die Antwort auf die alles entscheidende Frage zunächst nicht herauszufinden, nämlich die nach dem Line Up. Erst einige Tage später erfuhr ich, dass Devon Graves aka Buddy Lackey tatsächlich wieder an Bord ist. So ungefähr müssen sich 2005 die Take That-Fans angesichts der Re-Union mit Robbie Williams gefühlt haben!
Mit viel Wirbel und noch viel mehr nötige ich Sue Real, mit ins LKA zu kommen, denn ein solches Jahrhundertereignis kann man sich nicht entgehen lassen. Nun, ganz so schwierig war das freilich nicht, denn zumindest Nevermore reizen auch ihn. Schon vor der Tür muss ich feststellen, dass ich im Wettbewerb um das älteste Psychotic Waltz-T-Shirt nicht ganz mithalten kann. Aber noch während wir uns anstellen, wirbelt eine neue irritierende Nachricht alles durcheinander: Warrel Dane, seines Zeichens Sänger der aus Seattle stammenden Progressive Metaller Nevermore, sei zwar bereits in Europa, jedoch noch nicht in Stuttgart, sodass nicht garantiert werden könnte, dass die Band heute Abend auftritt.
So betritt Sue Real den Austragungsort der Power of Metal-Tour mit etwas gemischten Gefühlen, während mir eigentlich alles Wurst ist, solange Psychotic Waltz auftritt. Bevor wir über den Ausgang von Warrel Danes Odyssee jedoch Gewissheit erhalten, stimmen wir uns bei Mercenary auf den Abend ein. Die Dänen passen mit ihrem sehr rockigen Melodic Death Metal ganz gut in das notenreiche Musikkonzept des Abends, stehen Symphonie X durch ihre 80er-Einflüsse und die Chorus-Lines musikalisch aber ein wenig näher als den progressiveren Psychotic Waltz und Nevermore. Gerade durch diese rockige Komponente kann sich die Band ein Stück weit vom Einheitsbrei à la Norther abheben, wenngleich sie es sicherlich nicht in den musikalischen Olymp schafft.
Am Ende des Sets tritt ein Vertreter des Veranstalters auf die Bühne und bringt die schlechte Nachricht, dass Warrel Dane es definitiv nicht mehr schaffen wird, rechtzeitig nach Stuttgart zu kommen, sodass seine Band den Auftritt leider absagen muss. Nach Aussage der Plattenfirma Century Media gegenüber gig-blog hatte der Sänger seinen Anschlussflug in Paris verpasst und war anschließend in Oberhausen gestrandet, von wo aus eine Weiterreise nach Stuttgart nicht mehr möglich war. Aus der schlechten Nachricht leitet sich allerdings gleich eine gute Nachricht ab, denn zum Ausgleich, so der Veranstalter weiter, werden Psychotic Waltz und Symphony X ihr jeweiliges Programm ausdehnen. Der Jubel, der auf diese Ansage folgt, ist so groß, dass man fast den Eindruck hat, es hätte gar keine schlechte Nachricht gegeben.
In der Tat brennt im Saal jetzt die Luft. Allein das Aufhängen des Backdrops für Psychotic Waltz, auf welchem das Cover des Debüt-Albums „A Social Grace“ (1990) zu sehen ist, löst Jubelstürme aus. Den Satz: „Darauf habe ich 14 Jahre gewartet“, höre ich heute nicht nur einmal. Auch ich bin schon ganz aufgeregt. So hätte ich mich wohl mit 13 auf einem Konzert gefühlt, wenn es Psychotic Waltz da schon gegeben hätte. Neben mir hibbelt Liv Kritine von einem Bein aufs andere, und die ganze Menge sieht den Roadies bei der Arbeit zu, als ob es dadurch schneller ginge. Endlich braust der Applaus wieder los, als Gitarrist Brian McAlpin, der seit einem Kletterunfall querschnittsgelähmt ist (die Angaben in L. A. Times und Wikipedia sind falsch) – gefolgt von den anderen Instrumentalisten – auf die Bühne getragen und das Set mit „Ashes“ eröffnet wird. Dabei bekomme ich schon über und über eine Gänsehaut. Dieser Opener von „Into the Everflow“ (1992) beginnt mit schwebenden Keyboards und einer leisen Klaviermelodie, bevor er sich in die für Psychotic Waltz typischen von zahlreichen Rhythmuswechseln gezeichneten vertrackteren Strukturen öffnet. Nachdem schon ein Großteil des Songs gespielt ist, brandet plötzlich erneut der Applaus auf, als „the artist formerly known as Buddy Lackey“, der jetzt lieber bei seinem bürgerlichen Namen Davon Graves genannt werden möchte, die geschwungene Treppe aus dem Backstage herunter kommt.
Bei dem, was der Sänger hier an verdrehten, originellen Melodien bietet, müsste man gerade nochmal eine Gänsehaut kriegen, wenn die nicht schon längst eingetreten wäre. Weiter geht es mit „Spiral Tower“ mit seinen riesigen Intervallen in der Gesangslinie und den für die Band – ebenso wie die Rhythmuswechsel – charakteristischen doppelläufigen Melodien der Gitarren. Erst nach dem zweiten Song klingt die Gänsehaut langsam ab, während ich mich immer noch fühle wie ein hysterischer Teenager. Aber „frenetisch“ ist ein kleines Wort, um den Applaus des Publikums zu beschreiben, in welchem sich eine ähnliche Reaktion auch bei anderen ausdrückt. Das Gleiche gilt auch nach „Haze One“ von „Mosquito“ (1995). Davon Graves kommentiert den Jubel mit einem sympathischen Lächeln. In den Lyrics des Songs stellt er ja die Frage: „Where is all the screaming crowd“. Die Antwort ist einfach: Sie ist genau hier, Mann. Und sie war immer genau hier. Ihr hättet einfach nur früher zurück kommen müssen! Bei dem langen, von strömenden Melodien getragenen „Into the Everflow“, das für weitere Schübe von Gänsehaut sorgt, stehen die Fotografen immer noch vorne im Graben. Vor lauter Begeisterung ist wohl vergessen worden, sie nach dem dritten Song wie üblich zu verjagen.
Psychotic Waltz scheinen sich, nachdem sie so lange getrennte Wege gegangen sind, auch nach der Re-Union so lange wie möglich Zeit gelassen und auf gemeinsames Proben verzichtet zu haben, denn heute ist tatsächlich das aller erste Zusammentreffen der Bandmitglieder seit 1997, wie der Sänger gefolgt von „Morbid“ („Bleeding“, 1996) und „Cold“ verkündet. Kein Wunder vielleicht, wenn man berücksichtigt, dass er nach dem Split der Band ins Wiener Exil gegangen ist, wo er sich die Zeit mit Deadsoul Tribe vertrieb. „I missed those guys“, sagt er, und sie spielen „Halo of Thorns“. Aber noch wichtiger ist, dass er auch verkündet: „Psychotic Waltz is back“ und dass es weitere Alben geben wird.
Bei der Ankündigung des nächsten Songs zeigt Davon Graves schließlich eine selbstkritische Distanz zu seinem ehemaligen Alter Ego Buddy Lackey und der diesem vorgeworfenen Arroganz, indem er eingesteht, dass es eine Selbstüberschätzung war, anzunehmen, Chuck Schuldiner habe mit seinem Death-Song „Nothing is Everything“ auf die letzte Zeile von Psychotic Waltz „Nothing“ („Everything is Nothing“) geantwortet. „Nothing“ wird darum auch dem leider zu früh verstorbenen Chuck gewidmet. Mit jener dem Missgeschick Warrel Danes zu verdankenden Zugabe „I of the Storm“ schließt das Set mit einem dritten Song vom Debüt „A Social Grace“ in Folge. Ich weiß nicht, ob man das als programmatisch für die Zukunft von Psychotic Waltz verstehen darf. Eines ist jedoch sicher: Das Material klingt nach 20 Jahren immer noch völlig frisch und ist von anderen unerreicht geblieben.
Mit diesem nicht ganz eine Stunde dauernden Set hat Psychotic Waltz ein Monument geschaffen, vor dem allenfalls Nevermore sich nicht verstecken müssten. Nicht alle haben nach diesem Auftritt indes so weiche Knie wie ich und halten – während ein ziemlicher Teil des Publikums gen Ausgang strebt – Symphony X die Stange. Die Tasten- und vor allem Seitenflitzer aus Middletown, NJ, schwanken manchmal ein wenig zu Songpassagen, in denen sie es etwas ruhiger angehen lassen und der Gesang etwas getragener – und leider manchmal auch kitschig – ist. Aber das hält dann nur für eine Handvoll Takte – den Rest der Zeit wird in höchstem Tempo drauflos gefrickelt was das Zeug hält. Anders als bei der Melodiearbeit des nicht minder flinken Jeff Loomis von Nevermore haben wir hier eine ganze Menge deutlicher 80er Jahre Einflüsse vor uns.
Mit Russell Allen sehen wir zudem einen guten Frontman, der sich bemüht, die Hochstimmung nach Psychotic Waltz zu halten, was ihm freilich nicht gelingen kann. Dennoch hat die Band sichtlich Spielspaß und bringt viel Bewegung auf die Bühne. Sie beruft sich auf klassische Live-Tugenden, wie das erstmalige Präsentieren eines neuen Songs („End of Innocence“) oder die Aufforderung: „Wanna sing this one with me?“ Der Aussage: „You’ve got good beer here“, kann man dann auch zustimmen und sich bei dem Getränk genüsslich zurücklehnen mit dem Bewusstsein: Da kann kommen was will, das ist und bleibt einfach ein unvergleichlicher Abend! Oder, um es mit Joseph Roth zu sagen: „Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder.“
Mercenary
Psychotic Waltz
Symphony X