GOSSIP, 30.11.2010, Porsche-Arena, Stuttgart

Gossip

Foto: Timo Deiner

Beth Dittos Geschichte ist fast zu schön, um wahr zu sein. Die 29-jährige wuchs in einem Trailerpark am Rande der Kleinstadt Searcy in Arkansas auf. White Trash nennt man das in den Staaten auch. Doch das ist lange her, denn mittlerweile hat Mary Beth Patterson, wie sie mit bürgerlichem Namen heißt, es nach ganz oben geschafft. Sie ziert die Cover diverser Magazine, hat ihre eigene Modelinie entworfen und ist einer der Shootingstars der letzten Jahre. Und dabei passt sie auf den ersten Blick so gar nicht in die Glitzerwelt des Popbusiness. Klein und übergewichtig ist die bekennende Lesbe, die sich wenig um Etikette oder Anstand schert. Sie lässt auf Konzerten auch mal die Hüllen bis auf die Unterwäsche fallen, zerdrückt Früchte auf ihrem Körper oder rotzt auf die Bühne. Doch gerade dafür lieben sie ihre Fans. Sie ist eine Ikone geworden für all diejenigen, die genug haben vom glatten Popkult. Beth Ditto steht zu ihren Ecken und Kanten und hat damit so einiges verändert. Deutlich zu erkennen ist das an bekannten Casting-Shows, in denen es mittlerweile auch Übergewichtige in die Band schaffen. Ob das für Dicke erstrebenswert ist, ist natürlich eine andere Frage. Dass sie gleich scheiße behandelt werden wie Perfektproportionierte, ist aber eben auch eine Form der Emanzipation. Irgendwie.

Vor drei Jahren hat sie mit ihrer Band Gossip noch im Schocken gespielt. Damals leider ohne mich. Heute spielt sie in der Porsche-Arena vor mehr als 5200 Fans. Einen kometenhaften Aufstieg nennt man sowas wohl. Diesmal hat sie sich für ihr Publikum etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Am Eingang bekommt jeder einen kleinen Spiegel in die Hand gedrückt. Vor dem letzten Song bittet die 1,55 Meter kleine Wuchtbrumme ihre Fans dann, diesen in die Scheinwerfer zu halten. „Hold your Spiegeln das Licht“, steht auf den beiden großen Videoleinwänden geschrieben. Ui, denke ich so bei mir. Wir werden alle eine riesige lebende Disco-Kugel. Die Scheinwerfer richten sich auf das Publikum und tamm tamm tammm: hier und da blinkt es ein wenig – das war‘s. Voll verkackt, würde ich mal sagen. Gut nur, dass das aber auch wirklich die einzige Kleinigkeit ist, die heute schief gehen wird.

Denn von dem Moment an, als Gossip mit Frontfrau Beth Ditto im prall gefüllten schwarzen Glitzerkleidchen die Bühne betreten, kocht die Porsche-Arena. Und auch ich bin schon beim Opener „Vertical Rhythm“ restlos begeistert. Was die Frau da an einer Röhre raushaut, ist einfach grandios. Beth Ditto hüpft und tanzt dazu unter dem Applaus des Publikums lässig über die Bühne, als sei sie federleicht. Dank der Leinwände sieht man auch von etwas weiter weg, was für einen Spaß diese Frau an dem hat, was sie tut. Spätestens beim zweiten Song, der Gay-Hymne „Standing in the way of control“, hat es dann auch die hinteren Reihen erwischt – das Tanzfieber. Schwule, Lesben, Otto-Normal-Bürger mit Designer-Brillen und Teenies tanzen, klatschen und grooven was das Zeug hält. In den Pausen flirtet Beth Ditto mal in gebrochenem Deutsch, mal auf Englisch mit dem Publikum, erzählt ausführlich von ihrem Herpes und borgt sich auch mal die Kamera eines Fans um sich selbst zu knipsen.

Unglaublich sympathisch ist sie, die kleine Frontfrau und Rampensau, selbst wenn sie sich mit einem Handtuch den Schweiß vom Gesicht wischt wie ein Bauarbeiter. Unglaublich auch in welch Urgewalt sich diese zarte Stimme verwandeln kann sobald sie den nächsten Song anstimmt.

Gossip

Foto: Timo Deiner

Gossip haben das Publikum mit ihrem soulig-rockigen New Wave-Sound voll in ihrem Bann, egal ob mit eigenen Songs wie „Men in love“ sind oder Coverversionen wie Tina Turners „What`s love got to do with it?” oder dem wundervollen „Heartbeats“ von The Knife. Es gibt keine große Lichtshow, keine Effekte und Beth Ditto lässt die Klamotten an. Mal ein kleines auf die Bühne rotzen hier oder ein von einem lauten „Schulz“ gefolgten Rülpser dort – das ist alles was halbwegs anstößig ist. Ist ja nicht immer so. Beim Konzert in Frankfurt hatte sie eine Pause mit den Worten „Ich musste scheißen“ erklärt. Schön zu sehen, dass Beth Ditto nicht immer provozieren muss, um zu begeistern. Ganz im Gegenteil, die kleine Amerikanerin ist einfach nur süß, wenn sie zum gefühlten tausendsten Mal die Vorband Hercules and Love Affair, von denen ich leider nicht viel gesehen habe, anpreist oder den Stuttgarter Fans ihre Liebe zollt. Letzteres kennt man ja, macht ja jeder. Eigentlich kann ich das auch gar nicht ab. Aber wenn das Beth Ditto sichtlich ergriffen mit Tränen in den Augen macht, muss man doch einfach dahin schmelzen.

Die Sache mit den Spiegeln hatten wir ja schon, also Schwamm drüber. Als letzten Song spielen Gossip dann ihren Megahit „Heavy Cross“. Jetzt reißt es auch die Leute auf den Sitzplätzen von ihren Stühlen während unten im Innenraum manch einer beim Veitstanz völlig ausflippt. Die Porsche-Arena rockt. Beth Ditto, Gitarrist Brace Paine, die schwer tätowierte Drummerin Hannah Billie und der mir unbekannte Gastmusiker geben nochmal alles um dann unter donnerndem Applaus von der Bühne zu gehen. Natürlich lassen es sich die Vier nicht nehmen nochmal eine Zugabe draufzulegen mit „Love long Distance“ als krönendem Abschluss. Vermutlich haben sich heute 5200 Fans in Beth Ditto verliebt, wenn sie das nicht sowieso schon waren. Die Sängerin verabschiedet sich nochmal mit Küsschen in auch wirklich alle Richtungen, winkt auch den Fans in den obersten Sitzrängen und lässt das Konzert mit einem wunderbar kitschigen Abgang enden. Während sie leise und a capella Dolly Partons „I will always love you“ singt, geht sie langsam von der Bühne. Die letzten Töne schallen noch durch die Halle, als Beth Ditto längst nicht mehr zu sehen ist. „Tschüssi, ich liebe Dich“ ruft sie noch einmal aus dem Off. Tolles, wenn auch mit nicht mal eineinhalb Stunden etwas kurzes Konzert von Beth Ditto … äääh Gossip.

2 Gedanken zu „GOSSIP, 30.11.2010, Porsche-Arena, Stuttgart

  • 2. Dezember 2010 um 09:20 Uhr
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    Mir fällt ausser den White Stripes keine andere Band ein, die eine ähnliche Karriere in den letzten nicht mal 10 Jahren hingelegt haben wie Gossip, ohne dabei richtig schlecht zu werden. Selbst der Auftritt bei Gottschalk kann verziehen werden.
    Ich kann zur Schocken-Show noch einen drauf legen: Vor nicht ganz 5 Jahren haben Sie im Jugendhaus in Weinheim (Lino und mich zieht es da öfter hin) vor vielleicht 100 Leuten gespielt – und da gab es „Standing in the way…“ bereits!

  • 2. Dezember 2010 um 11:55 Uhr
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    Jugendhaus Weinheim? Hammer! Hätte Gossip auch gern mal noch in ’nem kleinen Club gesehen. Aber das ist wohl ums Eck.

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