SAMIAM, THE CASTING OUT, A DEATH IN THE FAMILY, 04.11.2010, Universum, Stuttgart
Früher, das war so ungefähr kurz nach Erfindung des Farbfernsehens, war „Emo“ ein ganz normales Wort. Wirklich. Da lachte niemand, keiner rümpfte die Nase und keinem stellte es die Haare zu Berge. Auch diese merkwürdige Seitenklatsche trug keiner als Frisurersatz durch die Gegend. Da dachte man noch frohen Mutes an Quicksand, Texas Is The Reason, Fugazi, Hot Water Music, Pennywise mit Schulabschluss und ohne „Bro“-Gehabe, Nerds ohne Wischnewski-Brille und halt an Samiam.
A Death In The Family, vorbildlich gesichtsbehaarte Australier, ziehen im recht ansehnlich besiedelten Universum gleich mal fesch den Hut vor Hot Water Music. So was sollte man eh viel öfter tun, als man es dann eigentlich tut. So wie Staubsaugen oder Urlaub machen. Der rohgerockte Post-Wasweißichcore der Australier ist auch Workingclass-, karohemden- und vollbartmäßig recht weit vorne und irgendwie fast sportlich.
The Casting Out – und das ist irgendwie gar nicht so schlimm – werden sich nach dieser Tour wohl neu erfinden müssen, schließlich will Sänger Nathan Gray die Stammband Boysetsfire wieder reaktivieren. „Re-animieren“ würde auch passen. Egal. Fast so egal wie das abgrundtief sympathische aber halt sakrisch altbackene Rumgeschmachte von Gray und Co. Sicher, die Melodien sind super und Energie haben sie auch. Aber das gibt’s mindestens genauso geil nebenan im Jugendhaus oder an anderen Orten, an denen sich zeitgenössische Rockmusik noch aufs reine Nachturnen bezieht. Boysetsfire ohne das Chaos und ohne die Wucht. Ja, nix Neues aus Delaware, trotzdem mit Herz vorgetragen, und das ist mehr als man beispielsweise gerade über Helmet sagen könnte. Die haben sich immer noch nicht aufgelöst.
Als Samiam das letzte Mal in der Röhre gespielt haben, war das ein großer Abend. Ich habe gestandene Männer weinen sehen, die das letzte Mal Tränen vergossen haben als Dave Lombardo 1992 Slayer verlassen hat. Okay, nicht ganz. Aber fast. Ungefähr so gut war das damals, als sie „Dull“ gespielt haben. Eines dieser Lieder, das man nur einmal im Leben schreibt. Komischerweise haben Samiam gleich massenhaft solche Dinger dabei.
Und auch im Universum macht Jason Beebout, der tapsige Sänger keine Gefangenen. Der Kerl sieht aus wie einer der Typen die man in Waschräumen am Autohof trifft. Singt halt besser als jeder andere Trucker. Jeder Ton ein Treffer, jede zweite Zeile so gut, dass man zwischenapplaudieren möchte. Man könnte sie auch mit Edding dem Trottel auf die Stirn schreiben, der an der Bar steht und „Gott, sind die alt geworden“ sagt. Macht aber keiner. Stimmt schließlich nicht, zumal das Quintett aus San Francisco schon vor zehn Jahren saumäßig alt ausgesehen hat.
Heute werden lieber Arme hochgerissen, wertvolle Zeilen mitgesungen, freundlich rempelgetanzt und selig gelächelt, während Samiam wie der Nachbarsbub an Silvester einen Kracher nach dem anderen zünden. Großes Kino im kleinen Rahmen ist das. Cool geht trotzdem anders. Das Quintett ist fast unverschämt unaufdringlich und fast beiläufig. Samiam schauen vorbei, spielen 90 Minuten, schwitzen, trinken etwas Bier und gehen dann wieder. Keine einzige Pose, lieber Hits batschen, einer jagt den anderen, Mund abputzen und weiter. Apropos: Sonderpunkte gehen an Gitarrist Sean Kennerly für seinen imposanten Porno-Trucker-Bart. Aber selbst der kann einpacken gegen „Dull“. Spielen sie gottlob auch. Und wie:
I don’t want to spend another long and lonely weekend by the phone
without anyone to call I’ve had a lot of time to think and I’m so tired of thinking
I know why he put that bullet in his skull.
Nebenan wackelt ein süßer Emoboy mit Seitenklatsche, ein Toughguy-Karate-Core-Typ, dessen Ohrlöcher an die Torwand im Aktuellen Sportstudio erinnern, nickt zustimmend und ein kahler Enddreißiger singt lauthals jede einzelne Zeile von „Capsized“ mit.
Herrschaftszeiten, so viel Eintracht gab’s schon lange nicht mehr in diesem Städchen. Ab und an hört man zwei Mädchen darüber schnattern, ob der Bassist von A Death In The Family nun süß ist oder nicht. Erste Hochrechnung: Ja. Endergebnis: keine Ahnung. War die Schuld von Samiam. Haben mich und alle anderen anständigen Leute abgelenkt: „Mud Hill“, „Mexico“, „Capsized“, „Stepson“, „She Found You“, „Factory“ und „Sunshine“ … – die Hits wollen nicht aufhören.
Beebout gibt nochmal den letzten Rest, kneift die Augen zusammen, ringt ein bisschen mit sich selbst und singt genauso wie man das hören möchte, wenn man gerade kurz davor ist, Gott eine aufs Maul hauen zu wollen. Samiam suhlen sich nicht im eigenen Elend, trinken nicht aus der Toilette. Da wird nicht geheult, nicht lamentiert oder gemotzt – da wird nach vorne geschaut. Am Bühnenrand gehts auch ab. Streichelpogo, zwei Crowdsurfer und jede Menge Zuneigung. Nur manchmal wirkt es fast so als wären dem fantastischen Sänger die lobenden Worte aus den ersten Reihen („Geil, Alder“) etwas unangenehm, mitklatschen auch. Egal. Da muss er durch. Packt der auch locker. Riesentyp. Riesenband.
Das sagenhaft saugute „Storm Clouds“ machte den Sack dann endgültig zu. Melodien, überall. Und wieder diese Worte: „black clouds hang over you, like anvils on a string, they follow you everywhere, so don’t stand so close to me“ singt der Tanzbär. „Will find your way around, whatever’s got you down“. Danke sagen, Einrahmen, mit nach Hause nehmen. Weitermachen.
Äh, hab mir das mit dem Bassisten von A Death In The Family noch mal überlegt: Ich glaube, ICH fand den nicht süß. Wozu auch?
Samiam
A Death In The Family
The Casting Out
Top Moustache 2010 ist hiermit schon vergeben. Eine Pracht!