CHRISTINE PRAYON, 29.10.2010, Theaterhaus, Stuttgart

Foto: Promo

Schwer, als Künstler, der etwas auf sich hält, am derzeit größten Gig in Stuttgart vorbeizukommen. So viele Krititschisten auf einem Haufen, massenhaft aktiviert von geheiligten Überzeugungen, Block für Block um ideologisch tadellos vertäute Bühnen versammelt, bereits von bürgerlicher Rechtschaffenheit angeglüht. Schnell lässt es sich in einem solchen Wust volkstümlicher Befindlichkeiten verlaufen, der mittlerweile hinreichend exponierte Schauspieler Walter Sittler macht es vor. Und das Lustspiel „Stuttgart-zwanzig-und-noch-eins“ ist durchaus angesagt, keine Frage.

Christine Prayon, Wahl-Stuttgarterin mit Bonner Migrationshintergrund, ist eine, die sich vor einiger Zeit im K21 verlaufen hat. Vermutlich aus tiefer innerer Überzeugung. Alsbald von der Sittler-Combo vereinnahmt ist sie jedenfalls seitdem Aktivistin und (wie sie sich selbst bezeichnet) Dagegenseierin.

Ich lese aus dem Zyklus
‚Männer sind primitiv aber glücklich‘
von Mario Barth,
das Gedicht ‚Nussloch‘

Vor allem aber ist Prayon Kabarretistin, oder, genauer, Diplomanimatöse. Nach diversen Auftritten mit Eva Eiselt (Top Sigrid, beide Gewinner des goldenen Besens 2005) oder Helge Thun (Comedystube) lautet so der etwas hölzerne Titel ihres ersten Soloprogramms.
Doch keine falschen Trugschlüsse ziehen, hölzern ist nichts an diesem Programm.

Pass auf, Pass auf, Pass auf
das ist so geil, echt, boah, echt Hammer
kein Witz, ne echt, eine wahre Geschichte
Pass auf, Pass auf, Pass auf

Theaterhaus. Fünf Minuten vor halbneun öffnen die Pforten des Theaters IV. Hinein in einen kleinwüchsigen Saal, der rund 150 Gästen Platz bietet, jedoch unterbesetzt ist.

Ich so mit meiner Freundin in Nussloch
Pass auf, eine wahre Geschichte, kein Witz
Also ich so mit ihr in Nussloch
Nussloch, ne, kennt ihr Nussloch?

Mit einer Klarinette in der Hand tritt Christine Prayon pünktlich an. Und man kann getrost sagen, sie hat einen gewaltigen Antritt. In der Rolle einer Marianne-ohne-Michael-Karikatur plus Perücke heißt sie ihre Gäste überschwänglich und in tiefstem Fränkisch willkommen. Bloß a Gaudi. Anschließend kippt Prayons Stimmung übergangslos ins direkte Gegenteil, wiederholt den Willkommensgruß als eisgekühlte, sonnenbebrillte Band-Frontfrau, und deutet so bereits zu Anfang ihr beachtliches schauspielerisches Repertoire an. Nach einer kecken Tanzeinlage zu „Spannenlanger Hanse, nudeldicke Dirn“, die knapp an einer Altherrenfantasie vorbeirauscht, kommt zum ersten Mal das Publikum ins Spiel. Deckenscheinwerfer glühen auf, die Spannung steigt, zwei Personen auf den vorderen Plätzen erfreuen sich Prayons persönlicher Aufmerksamkeit, doch niemand im Saal wird an diesem Abend wirklich vorgeführt.

Ich so mit meiner Freundin in Nussloch
beim Fabrikverkauf, Hammer, pass auf
kommt sie mit ner Handtasche an, pottenhässlich
pottenhässlich, die Tasche natürlich, nicht sie

Den ersten Höhepunkt markiert eine virtuos vorgetragene Schizo-Nummer, in die Prayon erneut praktisch übergangslos wechselt. Eingeleitet von einem kleinen Ausflug in ihre fiktive Familiengeschichte zerfleddert ihre mühsam verschnürte Persönlichkeit zu einem Durcheinander total überzeichneter Einzelfiguren, jede mit ihrem eigenen Minenspiel, jede mit ihrer eigenen Sprache. An der Diskussion um die Schizophrenie und deren Unterdrückung durch Haloperidol nehmen unter anderem teil: Natürlich Christine, dann Ute, die Heulsuse Elvis, Dieter, Marianne, Karin, die Katze Muschi (später Pussy), Frau Meissner, Tiffany, Cliff. Heraus kommt ein wilder, spritziger, geistreich und souverän choreographierter (Selbst-)Dialog, der spontan wirkt, und – bitteschön – ganz großes Tennis ist. Eine vielstimmige Zusammenkunft, die in Karins Nichtgesangseinlage „wer hat die Kokusnuss…“ mündet, und Prayon schließlich dazu bringt, mit einem Mund voll Wasser in die Gästereihen zu treten (das Ergebnis wird nicht verraten).

Das war so ne Klemmtasche, kennt ihr?
Kennt ihr Klemmtaschen, Klemmtaschen, ja?
Die klemmst du so unter den Arm,
kann der Achselbär reinwachsen, geil

An weiteren Höhepunkten mangelt es in Prayons Auftritt nicht.
Sie erscheint im güldenen Glitzerfummel und mimt anschließend den gealterten Clown, sie trägt Mario-Barth-Verse im Badeanzug vor, sie gibt den schmierigen Bistro-Italiener, sie imitiert Carla Bruni (dazu ein herzlich lachendes Botoxgesicht), ja, sie stirbt sogar ihren Bühnentod. Hinzu kommen kleine feine Gags. Ein Lottoschein für den Gast, der am wenigsten Spaß hat, ein testamentarischer Einkaufszettel, Mozart auf Bontempi-Orgel, eine Wetterfeekarikatur. Das ist witzig bis ergreifend, es ist vor allem originell und strotzt nur so vor Energie und Ideenreichtum.

Pass auf, ich sag, für was brauchst’n die?
Da sagt sie, ist echt wahr, kein Witz
da sagt sie, die kann man so halten
ist das nicht total megageil?

Fazit: Erfrischendes Kabarett im HD-Format. Unkonventionell, intensiv, rasant, vielfältig, gewagt, und ein wenig strapaziös für das Publikum. Was zunächst wie zweckfreie Improvisation scheint, entpuppt sich nach kurzer Zeit zu einer Mischung aus Varieté und Personality-Show. Eine Mischung, die aufgeht, eine, die sich im Titel Diplomanimatöse in mehrfacher Hinsicht spiegelt.

Die wenigen Erbsen, die es zu zählen gibt, sollen hier unerwähnt bleiben. Bis auf eine: Die zweite Zugabe, in der die Bahnhofstiefleger Mappus und Rech zur Sprache kommen, ist mau und ausgesprochen unpassend.

Schaut’s euch an, nicht bloß a Gaudi, es lohnt sich.

2 Gedanken zu „CHRISTINE PRAYON, 29.10.2010, Theaterhaus, Stuttgart

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