NITZER EBB, 28.02.2010, Röhre, Stuttgart

Nitzer Ebb

Foto: Steffen Schmid

Dass ich das noch erleben darf – Nitzer Ebb live in Stuttgart! Um die Bedeutung für mich zu veranschaulichen muss ich mal eben etwas ausholen. Ich war 18 Jahre alt, als ich das erste Mal in einer Grufti-Disco war. Davor war so ziemlich alles außer Deutschpunk tabu. Mit Cure, Depeche Mode und den guten alten Sisters of Mercy hat’s angefangen, die Einstiegsdroge quasi. Später folgte, was man damals halt noch so hörte: Das Ich, Relatives Menschsein, Goethes Erben und all sowas. Irgendwann war man neugierig auf die dazugehörige Szene. Krass sollte die sein und anders als alles, was man sonst so kannte. Hat man zumindest so gehört. Also ging’s an einem Samstagabend 1993 mit zwei Freunden frisch gestylt zum ersten Mal in die Scheune nach Bietigheim. Ein denkwürdiger Abend, wir wurden nicht enttäuscht: Finstere Gestalten mit Handschellen und Umhängen, harte Typen mit Glatze und Armeehosen, Mädels in Lackcorsagen, viel Nebel, merkwürdige Tanzschritte – irgendwie seltsam und deswegen erst recht klasse! Dass sich später herausstellte, dass auch Typen namens Dark Lord Hotelfachmann sein können und verruchte Lackladies sich schnell nochmal aufm Klo umziehen, bevor sie von Mama und Papa abgeholt werden, ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls haben wir damals eine neue Welt betreten. Nur von der Musik in der Scheune waren wir irgendwie enttäuscht. Finstere Grabesmelodien wurden fast gar nicht gespielt. Beschiss! Stattdessen diese harten und kalten elektronischen Beats mit viel Gebrüll und wenig Gesang. Wobei – der stampfende Rhythmus ging recht schnell ins Blut. Irgendwie recht eingängig. Sich auf der Tanzfläche völlig zu blamieren war auch kaum möglich – von links nach rechts stampfen bekommt man auch ungeübt gerade noch so hin. Naja, wo man schon mal da war. Statt zu Das Ich tanzten wir dann eben zu Oomph! „Der neue Gott“ (falls jetzt jemand denkt, wie ich Depp freiwillig und ohne Not zugeben kann, mal zu Oomph! getanzt und dabei sogar Spaß gehabt zu haben: die haben unglaublicherweise mal richtig gute Musik gemacht), Front242 „Tragedy for you“ und einer englischen Band namens Nitzer Ebb, die mit Krachern wie „Let your body learn“ oder „Join in the chant“ recht schnell unsere Herzen eroberte. Und ratzfatz war man mittendrin im EBM. Und so schnell ging’s dann auch nicht mehr raus. Unzählige Festivals, verflossene Liebschaften, durchtanzte Nächte – Bands wie diese haben sozusagen den Soundtrack zu einem Großteil meiner Jugend geschrieben. Und auch wenn ich mittlerweile wieder eher beim guten alten Punk angekommen bin, die großen Helden von damals werden immer noch in Ehren gehalten.

Jedenfalls war die Freude groß, die Briten live in der Röhre sehen zu können. Vor 28 Jahren im englischen Chelmsford gegründet, ist die Band um Frontmann Douglas McCarthy ein echtes EBM-Urgestein. Nachdem die Band sich 1997 aufgelöst hatte und McCarthy und Bon Harris sich anderen Projekten widmeten, hab ich nicht damit gerechnet sie nochmal live zu sehen. Aber wie das Leben so spielt: 2006 gab’s die Reunion und nach einigen Konzerten mit „Industrial Complex“ jetzt sogar ein neues Album.

Also auf in die Röhre und sich wieder wie 18 fühlen. Und dazu noch Psyche als Vorband, auch so eine Jugenderinnerung. Nur noch schnell meinen Kumpel abgeholt (der übrigens auch bei meinem ersten Scheune-Besuch dabei war). Mist, der ist natürlich zu spät dran. Muss sich noch stylen und die Glatze frisch rasieren. Ist ja nicht irgendein Konzert. Wir sind zu spät. Denke ich zumindest. Denn als wir eine halbe Stunde nach offiziellem Beginn ankommen, erfahren wir, dass Psyche ausfällt. Gerüchten zufolge soll wegen des Sturms ihr Zug nach Stuttgart nicht fahren. Scheiß Sturm! Wusste gar nicht, dass Bands auch mit dem Zug zu Konzerten anreisen. Schade. Wir haben also noch Zeit. Auch nicht schlecht. Hat man wenigstens Zeit, das ein oder andere bekannte Gesicht zu begrüßen. Manche habe ich schon zig Jahre nicht mehr gesehen. Am Merchandise-Stand dann die zweite Enttäuschung. Das einzige Shirt, das mir richtig gut gefällt gibt’s nur noch in „S“. Ja gut, ich hab in den letzten Wochen schon recht viel Sport gemacht, aber leider auch ganz gern gegessen. Also ist das Thema abgehakt.

Nitzer Ebb

Foto: Steffen Schmid

Kurz vor 21 Uhr geht’s dann los. Viel Nebel und ein Frontmann, der an Sisters of Mercy-Sänger Andrew Eldritch in seinen besten Tagen erinnert (weißes Hemd, schwarze Krawatte und Fliegersonnenbrille). Das Konzert ist zwar nicht ausverkauft, die Röhre ist trotzdem recht voll und die Stimmung vom ersten Song an richtig gut. Mit „Promises“, dem Opener des neuen Albums „Industrial Complex“, geht’s dann los. Klingt gut. McCarthy und seine beiden Mitstreiter an Drums und Percussion geben Gas. Die für EBM und Nitzer Ebb so typischen Synthie-Beats hallen stampfend durch die Röhre, während McCarthy shoutet, über die Bühne tanzt und sich ab und an schüttelt, als wäre er von Stromstößen durchdrungen (ja gut, manchmal sieht’s auch ein bisschen nach Epileptiker im Pflegeheim aus). Irgendwie bin ich aber noch nicht so richtig drin und auch bei meinem Kumpel scheint der Funke noch nicht so richtig übergesprungen zu sein. „Ich geh mal eine rauchen“, lässt er mich wissen und verschwindet für ein paar Minuten nach draußen. Fairerweise muss man aber auch dazu sagen, dass wir relativ weit hinten stehen und da meistens nicht gerade das Stimmungs-Epizentrum ist. Selbst ein Hit wie „Let your body learn“ ist heute Abend nicht vergnügungssteuerpflichtig. Klingt irgendwie dünn.

Als ich Nitzer Ebb live fast schon enttäuscht abhaken will, schlägt mein Stimmungsbarometer recht unerwartet nach oben aus. „Warsaw Ghetto“ klingt schon ganz anders und jetzt hat‘s mich endlich doch noch erwischt. Der Beat klingt fetter, die Stimmung in der Röhre wird richtig ausgelassen und schließlich kann auch ich nicht mehr stillhalten… links, rechts, links, rechts… ist wie Radfahren, das verlernt man auch nicht. McCarthy, der alte Schlawiner, hat sich die ganze Power für die zweite Hälfte des Konzerts aufgehoben und die größten Hits für den Schluss. Mit „Murderous“, „Control“ und der sagenhaften EBM-Hymne „Join in the chant“ setzt er nochmal richtig einen drauf. Als Zugabe gibt’s dann noch „Getting closer“ und „Fun to be mad“. Die Röhre jubelt und die wortkarge Band und ihr Publikum applaudieren sich gegenseitig. Mit dem etwas langsameren und synthie-poppigeren „I give to you“ setzen Nitzer Ebb dann nach etwa eineinhalb Stunden den Schlussakkord. Und ich bin erleichtert. Mit der EBM-Legende Nitzer Ebb ist noch immer zu rechnen. Nach durchwachsenem Beginn wurde es noch ein richtig gutes Konzert, wenn auch keines von dem man noch Jahre später schwärmt. Vielleicht lag es daran, dass ein Sonntag eben nicht gerade der beste Konzerttag ist. Vielleicht daran, dass man sich ohne Vorband manchmal doch irgendwie recht unvermittelt ins Geschehen geworfen fühlt. Bin gespannt wie sich die zweite (meiner Meinung nach noch größere) Legende Front 242 im April im Vergleich schlägt.

Zuhause wird aber erstmal ein altes Tape rausgekramt: „Die Scheune – 11.12.1993“. Das hab ich damals dem DJ in die Hand gedrückt und er hat es mitlaufen lassen. 90 Minuten Hardcore, 90 Minuten echte Gefühle.

5 Gedanken zu „NITZER EBB, 28.02.2010, Röhre, Stuttgart

  • 2. März 2010 um 13:26 Uhr
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    Carsten,
    außer, dass ich vor meinem EBM-Einstieg die Techno-Phase 1990 bis 1993 durchlaufen habe, gleichen sich unsere Wege zum strammen Elektro völlig! Ich konnte leider am Sonntag nicht, aber allein zu wissen, dass Nitzer Ebb ein Konzert in der Röhre gibt, machte mich hibbelich; ich weiss genau, was das für ein Erlebnis für Dich war!

    Und Steffen: Fotos wie aus dem Studio, elektro-hammergut!

    bertram“violent playground“primus

  • 2. März 2010 um 13:36 Uhr
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    War schon ein Erlebnis Sachen wie „join in the chant“ live zu hören. Und das Beste… Front 242 kommt ja auch! Und Schmoudi: geniale Bilder!!

  • 2. März 2010 um 13:46 Uhr
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    Ich habe Nitzer Ebb vor zirka 200 Jahren mal im LKA gesehen, doch ein Kultur-Austausch fand nicht statt. Der Gig ging ganze 35 Minuten und die zahlende Kundschaft war durchweg verärgert.

  • 2. März 2010 um 13:49 Uhr
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    Yep, Front 242 kommt, verrückt, fehlen die Krupps noch. Herrlich!

  • 2. März 2010 um 15:20 Uhr
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    Ui, bei einem 35-minütigen Konzert wär ich aber auch ausgeflippt!

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