BIFFY CLYRO, 08.02.2010, Röhre, Stuttgart

Biffy Clyro

Foto: Steffen Schmid

Was ich nicht mag: Menschen, die alle Welt an einer Demonstration der vollen Funktionalität ihrer Organe im HNO-Bereich teilhaben lassen. Sei es unaufhörliches Schniefen, sei es säuselndes Zischen, das entsteht, wenn ein Luft-Speichel-Gemisch durch Zahnzwischenräume gesogen wird.
Hört auf damit! Benehmt Euch, als hätten Mutter und Vater Euch lieb gehabt! Ihr wurdet nicht von Gollum, Fuchur und Bernd dem Brot großgezogen!

Was ich gerne mag, ist handgemachte Musik, der man die Kraft ihres Entstehungsprozesses anmerkt. Das kann sich in Melodien, wuchtigen Texten, Rhythmen oder Instrumentierungen zeigen. Das kann aber auch die latente Energie sein, die sich hinter jeder Note und jeder Silbe verbirgt und die die Überbringer solcher Musik zum Idol der Massen macht.

Das begreifen auch die Menschen in Fellbach-Schmiden, Remseck-Aldingen und Stuttgart-West, denn das Konzert von Biffy Clyro ist seit Wochen ausverkauft. Für sich genommen ist das noch kein Qualitätsmerkmal, auch die heiteren Abende mit Chris de Burgh (der mit der rauchigen Stimme), den drölf Tenören (krächz: „ich wünsche mir den Gefangenenchor aus Nabucco!“) und Guano Apes sind oder waren schon mal ausverkauft. Und auch die Lorbeeren und Lobhudelei-Vergleiche (u. a. mit „Nevermind“), die die Musikpresse kübelweise über den Schotten ausgeschüttet hat, sind weder Garant noch Menetekel. Aufhorchen lassen solche Omen trotzdem, also nix wie reingehört in die Platten und aufs Konzert gegangen.

Die Alben reissen direkt beim ersten Hören mit. Die Freundin sagt, das Ganze klinge 20 Jahre alt. Ganz so weit würde ich nicht gehen, aber die geistigen Vettern von Biffy Clyro sind nicht schwer zu erraten: Da wurde viel Bush, Foo Fighters und sogar Blink 182 gehört. Am stärksten assoziiere ich aber Dashboard Confessional. Deren 2003 erschienenes, schwer zu toppendes Album „A Mark, A Mission, A Brand, A Scar“ gilt als Wegbereiter oder gar Wiege des Emo.

Ich habe ja nie verstanden, was es mit Emo auf sich hat. Ernsthaft. Kann mir das jemand erklären? Warum wurde einer bereits seit längerem bestehenden Musikrichtung ein neuer Name gegeben? Und was haben Zimbl (The Bates), Billy Kaulitz (TH) und Bill Talent damit zu tun? Leseraufruf: Lieber Leser! Nutze die Kommentarfunktion, definiere Emo und gib einen kurzen geschichtlichen Überblick. Und bitte in eigenen Worten, ihr Multiplikatoren des fremden geistigen Eigentums, ihr Könige des copy&paste.

Biffy Clyro

Foto: Steffen Schmid

Zurück zu Biffy Clyro: Treibende Gitarren, ein gutes Händchen für Harmonien und Melodien, innovative Elemente (Pausen, Bläser, Tempiwechsel) und jederzeit eine extrem hohe Energiedichte machen schon die Platten zu etwas Besonderem. Live in der Röhre kommt das auch gut rüber. Ab dem ersten Ton sind die rund 500 Zuschauer in bester Stimmung, und zwei bis drei Dutzend eingefleischte Fans vor der Bühne tanzen und grölen mit, als gäb’s kein morgen. Drei ordentlichen Brettern zu Beginn folgt das zuckersüße „Bubbles“ und es erstaunt, wie leicht der Wechsel zu poppigeren Stücken und zurück gelingt. iPhones werden in die Luft gehalten und verwackelte Bilder mit roten und blauen Lichtreflexen gemacht, um den kurzen Moment festzuhalten. Kollege Lino kommt nicht umhin, mich mehrmals auf den exzellenten Sound aufmerksam zu machen, bis ich’s mir endlich aufschreibe. Knappe anderthalb Stunden spielen die drei Schotten und verlassen nach Zugabe und artigem Bedanken in akzentfreien deutschen Phrasen ein zufriedenes Publikum.

Auch wenn hier kein Meilenstein der modernen Rockgeschichte zu erkennen ist, der Vergleich mit „Nevermind“ ist so falsch nicht. Wo Nirvanas Album seiner Zeit voraus war, hinken Biffy Clyro etwas nach. Ich fühle mich um zehn Jahre zurückversetzt und will sofort meine Jugend wiederhaben.

Verklärt blicke ich zurück, wie das früher so war: Nach dem Konzert wurden an der Bar Blutergüsse gezählt und die dazugehörigen Geschichten erzählt, bis das Licht anging und die dicken Ordner mit Ärger drohten. Und wenn Axel wieder vom Klo zurückkam, wo er sich umgezogen hatte, weil er bis auf die Unnerbüx klitschnass war, konnte es auch endlich losgehen zur Straßenbahn.

Und wie sieht’s heute aus? Ich gehe auf schnellstem Weg nach Hause, hänge Wäsche (30°) auf, mache eine Kanne Tee (Fenchel-Kümmel-Anis) und schreibe mittelprächtige Artikel für den lausigen hervorragenden, sicher bald preisgekrönten gig-blog.
Watch out, ihr Indie-Schnösel, schaut in Eure Zukunft!

8 Gedanken zu „BIFFY CLYRO, 08.02.2010, Röhre, Stuttgart

  • 9. Februar 2010 um 12:18 Uhr
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    Hammerguter Text, der mich in meinen Formulierfähigkeiten im Mark erschüttert und in Apathie verfallen lässt.

    Heidenei!

  • 9. Februar 2010 um 14:31 Uhr
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    Simon Neil hat aber auch gut vorgelegt mit seinem Brecht-Zitat auf der Hüfte.

  • 9. Februar 2010 um 14:38 Uhr
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    sind jetzt Tattoos the new Poesiealbum?

  • 9. Februar 2010 um 15:12 Uhr
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    Zum Glück habe ich mir das gespart, ich mag keine ausverkauften Konzerte, obwohl Sie mir im Schocken vor ca. 1 1/2 – 2 Jahren gut gefallen haben, aber so gut, dass ich mir jetzt eine LP von BC kaufen müsste, fand ich sie auch nicht.
    Emo ist mir auch etwas suspekt, für mich ist das immer noch ein ursprüngliches „DC-Ding“, zumindest habe ich damals vor über 20 Jahren das Wort Emocore in Verbindung mit Bands wie Rites Of Spring, Soulside (völlig unterbewertete auch heute noch geniale Band!!!), Fugazi,… zum ersten Mal wahrgenommen, die haben den damaligen Volle Bratze-Hardcore-Sound um Dynamik und Melodie erweitert und die vorwiegend politischen bis destruktiven Texte gingen dann mehr in Richtung persönliche Befindlichkeiten, also emotional, darum Emocore. Heute ist das wohl eher so ein überflüssiger Teenie-Style-Mumpitz, der sich gut vermarkten lässt und aus dem man irgendwann herauswächst. Oder gibt es Emos über 30???

  • 9. Februar 2010 um 16:42 Uhr
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    Luc, nix gegen Bernd das Brot!! Da hat der Spass ein Loch, gell!!

  • 10. Februar 2010 um 14:18 Uhr
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    Super.

  • 10. Februar 2010 um 15:53 Uhr
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    ich war auch da… und es war einfach gigantisch!!!

  • 10. Februar 2010 um 18:27 Uhr
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    das Konzert war der Hammer, aber ich glaub ich war noch nie auf einem Konzert bei dem die „Hauptband“ NUR eine Stunde gespielt hat, viel zu kurz!!!!

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