LADYTRON, PRIMAL SCREAM, 10.07.2009, Traffic Torino Free Festival, Turin

Primal Scream

Foto: Lino

Während die lieben KollegInnen Brezeln backen, ihren Studienabschluss mit Eierlikör besaufen, wehrlosen Bürgern die Bude leerräumen, abends im Varieté aus der Kiste springen, die kommenden Designerbeats basteln, einem grausamen Gott Tiere opfern oder hinterm Mahagonischreibtisch sternhagelvoll ihre Fingernägel feilen, bin ich dem Ruf und der Einladung vom lieben Michele, Topmusiker und -friend (Myspace und sogar im echten Leben!), nach Turin gefolgt.

Reiseanekdoten gibt’s aufgrund der makellosen Fahrt leider gar nicht zu erzählen. Das nächste Mal dann vielleicht doch mit der Mitfahrgelegenheit, in der Hoffnung auf einen Fahrer zu treffen, der brüllend laute Hitradiosender durchzappt, gewagte naziaffine Kommentare zur politischen Lage abgibt und sich währenddessen am schorfigen Gemächt kratzt. So ist’s ja langweilig. Einzig die extreme Flaggendichte in der anmaßend pittoresken Schweiz ist mir aufgefallen. Die müssen sich wohl jeden Tag aufs neue vergewissern, wo sie eigentlich leben.

Traffic Free Festival, der Name sagt es schon: für umme kann man sich hier schon seit Jahren wirklich namhafte Acts anschauen (Aphex Twin hatte auch schon einen Auftritt zusammen mit Chris Cunningham).
Das Festivalgelände befindet sich gute 45 Minuten Busfahrt außerhalb Turins, malerisch gelegen vor dem Schloß Venaria. Von der Bushalte bis zum Festivalgelände muss man unzählige Panini-Stände passieren, unterbrochen von Neapolitanern, die Dieselgeneratoren-gekühltes Bier unter Sonnenschirmen anbieten und dabei das Kyoto-Protokoll torpedieren, dass es nur so eine Freude ist.

Auf der Hauptbühne geht das Ganze los mit einer Turiner Nachwuchsband namens „Treni All’Alba“. Die spielen Musik, die man am besten als „instrumentalen Akkustikgitarren-Progrock meets Branduardi“ beschreibt. Der Keyboarder faselt bei den Ansagen gutgelaunt ab und an was von wegen Apokalypse, Satan usw. Solche Aussagen verbunden mit der wirren roten Frisur legen die Vermutung nahe, dass der Knabe wohl auch nicht mehr so ganz alle Rosinen beisammen hat.

Ladytron betreten noch bei Tageslicht die Bühne, allesamt schwarz gekleidet. Vier Männer, die im Hintergrund spielen. Die zwei Mädels vorne singen und bedienen Keyboards/Synthies. Der Auftritt passt ganz gut zum eher dunklen Elektropop der Band. Eher unterkühlt das alles, was jetzt aber gar nicht abwertend gemeint ist. Ist ja stimmig zur Musik. Und bei ihrem Hit „Seventeen“ kommen sowohl Publikum als auch Band mehr in Bewegung. Vielleicht passen Ladytron insgesamt aber besser in einen Club oder in eine kleinere Halle, wo ich mir das Ganze doch auch sehr mitreißend vorstellen könnte. Nach 45 Minuten ist das  Set vorbei und ich vermisse mein Lieblingslied von Ladytron „Blue Jeans“.

Pause, paar Worte zum Publikum. Sehr zahlreich (bestimmt 5-stellig), extrem bunt gemischt. Indiestyler, die im NME auf dem Cover stehen könnten, Reggae-Zivi-Hanftypen, Metalheads, junge Disco-Italo Typen (NICHT Italo-Disco!) mit Glitzerapplikationen an der Kleidung, intellektuelle Mittelschichtler etc. Unglaublich gemischtes Publikum. Am Vorabend bei Nick Cave war aber wesentlich mehr los, als bestimmt an die 15 000 Zuschauer da waren.

Ladytron

Foto: Lino

Primal Scream hab ich ja für mich erst spät mit ihrem Exterminator-Album entdeckt. Dafür aber gleich richtig. Kill All Hippies ist immer noch eines meiner Lieblingsstücke und ein Prachtbolzen an geilem Gebratze, schmissigen Slogans und voll auf die Nuss. Die große und entscheidende Frage für mich war, ob sie eher ihre Rock- oder ihre Electroseite heute abend zeigen würden (mein klarer Favorit: die Electroseite bei Primal Scream). Um es vorneweg zu beantworten: es gab von allem was, aber schlussendlich mit einem Übergewicht der Stones-mäßigen Songs.

Ziemlich überrascht bin ich von der Spielfreude der Band. Die haben richtig Bock auf den Abend und das merkt man auch. Bobby Gillespie sollte ja eigentlich ein Drogenwrack sein, aber der Mann liefert eine sehr geile Performance ab. Stimmlich auf der Höhe, gut angezogen und wirklich perfektes, unaufdringliches aber perfekt aussehendes Posing am Mikro (und fett Sympathiepunkte bei mir, da wir beide ähnlich elegant schlank sind). Was Coolness und Credibility angeht, spielt Mr. Manchester-Rave in einer ganz anderen Liga als so Oberpappnasen und Suppenkasper wie z.B. Liam G. (musikalisch sowieso). Hätte ich jetzt nicht erwartet, freut mich aber sehr.
Neben mir steht noch ein dicker Geezer, Marke zu lange vor Fantasyspielen am PC gesessen, und brüllt mir alle paar Minuten „Aceto“ ins Ohr. Blitzgescheit und sprachgewandt wie ich bin kombiniere ich, dass er damit wohl „Acid“ meint.  Primal Scream haben sich ihren Ruf hart erarbeitet, weltweit.
Meine Höhepunkte sind wie erwartet „Kill All Hippes“ (hätten sie aber gerne länger spielen dürfen) und „Swastika Eyes“, das wie ein Tornado über einen fegt und ein richtiger Mindkiller ist. Super!
Zugaben gibt es natürlich auch (u.a. „Higher Than The Sun“), wobei meine Landsleute beim Zugabe fordern sich hierzulande was abschauen können. Total unorganisiert, jeder für sich, ist gar nicht klar ob die Leute wirklich mehr wollen…aber so einstimmiges Parolen brüllen, das braucht eben ein wenig Tradition…räusper….

Primal Scream

Ladytron

8 Gedanken zu „LADYTRON, PRIMAL SCREAM, 10.07.2009, Traffic Torino Free Festival, Turin

  • 11. Juli 2009 um 08:17 Uhr
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    „Blue Jeans“ hätte mir auch gefehlt. Habe aus London einen Mix mit Stooges‘ „I wanna be your dog“ mitgebracht, muss ich Dir unbedingt mal zeigen.
    Ich dachte da kommt viel,viel mehr Text bei so einer großen Sache…

  • 11. Juli 2009 um 10:23 Uhr
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    Zeitmangel, Tox. Außerdem Aktualität vs. Detailreichtum.
    2 Zusätze: die schwarzhaarige Sängerin von LT war sehr entzückend; ein Gitarrist von PS war extrem scheisse angezogen (Foto kommt noch)

  • 13. Juli 2009 um 08:57 Uhr
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    Bezüglich „einstimmiges Parolen Brüllen“ – war nicht der italienische Faschismus auch Vorbild für den Nationalsozialismus? Wenn ich jetzt höre wie das in Italien läuft – da musste ja beides scheitern.
    Ich gebe Italien die Schuld.

    Das mit dem Parken auf dem Mittelstreifen hat aber schon was, erinnert mich an Fahren auf dem Bürgersteig (Foggia).

  • 13. Juli 2009 um 09:02 Uhr
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    Dein Bericht und die Kommentare lassen sich echt ausschlachten. „Die schwarzhaarige Sängerin von Ladytron“ – so, die hat Dir also gefallen. Und was ist mit der Anderen, dieser blonde Engel?

    https://www.discogs.com/Ladytron-Light-Magic/release/53752

    Vielleicht noch einen weissen Schimmel oder einen besoffenen Iren gesehen?

  • 13. Juli 2009 um 09:46 Uhr
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    Mann, Fotos von Ladytron kommen noch. Die Eine ist jetzt eben blond. Du wechselst doch auch ständig die Haarfarbe.
    Zum Fahren auf dem Bürgersteig sindse in Norditalien zu verklemmt.

  • 13. Juli 2009 um 09:54 Uhr
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    Echt jetzt, blond? Passt gar nicht zum Ladytron-Style.
    Shit, Kommentar verhagelt…

  • 13. Juli 2009 um 18:29 Uhr
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    Das ist hier kein Chatroom meine Herren!
    Guter Bericht … sternhagelvoll hinterm Mahagonischreibtisch … ich lach‘ mich schebbs.

  • 2. Dezember 2009 um 09:54 Uhr
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    Lino, das mit dem Bericht hast Du sehr gut gemacht :-)

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