MATT SHEEHY, 27.05.2017, InDieWohnzimmer, Stuttgart

MATT SHEEHY, 27.05.2017, InDieWohnzimmer, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Irgendwann, nach ca. zwei Drittel des Konzerts weiß ich nicht genau, was das eigentlich ist bzw. was das eigentlich sein soll. Es ist nochmal wärmer geworden und trotzdem sitzen ca. 40 Leute im abgedunkelten IndieWohnzimmer in Feuerbach, starren auf ein mit Visuals bespieltes Leintuch und lauschen Matt Sheehy, einem gelockten, dünnen Sänger in weißer Montur, der gerade etwas von der Möglichkeit erzählt, alle Punkte der Zeit an allen Orten des Universums sehen zu können. Oder jedenfalls so ähnlich, meine Wahrnehmung ist nach 60 Minuten auf die Leinwand blicken etwas eingeschränkt. Und mich würde es in diesem Augenblick nicht wundern, wenn Sheehy gleich alle Zuhörer mit seiner Gitarre auf die nächste Anhöhe führt, um diese Möglichkeit der Zeit- und Raumverschiebung als Realität aufzuzeigen.

MATT SHEEHY, 27.05.2017, InDieWohnzimmer, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Weit später wird mir klar, was Sheehy mit seinem neuesten Projekt „Aberdeen“ eigentlich vollbringt. Klar, es sind auf der einen Seite natürlich wundervolle Songs, die er im Laufe der 90 Minuten präsentiert. Mit einer Stimme, die nicht so leicht einzuordnen ist und die sich stetig weigert, herangezogenen Vergleichen standzuhalten, da er sie variantenreich einsetzt, immer an der Grenze der für ihn noch machbaren Höhe. Songs, die manchmal mit einer akustischen Gitarre von ihm selbst begleitet werden und dabei dankenswerterweise nicht nur einmal abweichen vom schon so oft gehörten Standard-Songwriter-Geschrammel. Dann legt er eine sphärische Melodie über die ansonsten durch die zahlreichen Effektgeräte und Programme erzeugten, manchmal schon wabernden Sounds.

MATT SHEEHY, 27.05.2017, InDieWohnzimmer, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Auf der anderen Seite wird diese Performance (oder „sci-fi-musical“, wie Sheehy selber sagt) vom Mann im Hintergrund geprägt, der für die 90-minütige optische Verzauberung zuständig ist: Stefan Nadelman, Filme- und Visualsgestalter. Eine Zusammenarbeit von diesen beiden gab es schon vor einem Jahr zu bewundern, als Nadelman eine kurze Film- und Animations-Montage veröffentlichte, die auf Skizzen und Animationen Kurt Cobains und der Dokumentation „Kurt Cobain: Montage of Heck“ aus dem Jahre 2015 beruht. Für die Musik zu diesem Video sorgt eben Sheehy mit seinem Song „Aberdeen“, der nun Aufhänger für diese Darbietung ist, welche gestern Abend in Feuerbach Weltpremiere feierte.

MATT SHEEHY, 27.05.2017, InDieWohnzimmer, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Sheehy entführt seine Zuhörer dabei in eine Geschichte: Er, gebeutelt vom Leben an sich, begab sich vor ca. zehn Jahren in das Städtchen Aberdeen im Bundesstaat Washington, um von der hektischen Welt abgeschieden als Förster zu arbeiten. Unter ihm wohnen Casey und Flood, ein Paar, das er in der ersten Zeit hauptsächlich dadurch kennenlernt, dass er durch die Spalten im Holzboden jegliche Gespräche und Auseinandersetzungen der beiden verfolgen muss. Nachdem sich die drei schließlich kennengelernt haben, erlebt Sheehy (oder sollte man besser sagen, der Erzähler?) eine groteske Situation, die ihn aus der Stadt flüchten lässt. Jede der einzelnen Erzählpassagen (oder sollte man besser sagen, Kapitel?) ist die Vorbereitung des nächsten Songs, der thematisch das zuvor Erzählte aufgreift.

MATT SHEEHY, 27.05.2017, InDieWohnzimmer, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Sheehy und Nadelman nutzen die technischen und visuellen Möglichkeiten perfekt. Im ersten Drittel steht Sheehy quasi in einer visuellen Box, in der animierte Visuals sowie zum Plot passende Filmsequenzen zu sehen sind. Nach der Flucht wird die Episode erzählt, in der Sheehy seine jetzige Ehefrau (und ebenfalls Sängerin) kennenlernt. Ein Video wird eingespielt und Sheehy singt den folgenden Song im Duett mit ihr. Das gleiche Schema wird genutzt, um Sheehy mit sich selbst singen zu lassen, aufgenommen vor einer Hütte mit E-Drums und grotesk großem Hund.

MATT SHEEHY, 27.05.2017, InDieWohnzimmer, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Die Geschichte geht noch etwas weiter und bleibt bei dem Prinzip, welches ich zu Anfang als seine eigentliche Leistung bezeichnet habe, treu: Er verzweigt Fiktion und Realität und überlässt es den Zuhörenden herauszufinden, wo die Realität aufhört und die Fiktion anfängt. Oftmals oder fast immer wird in der Musik der Text mit dem Sänger oder der Sängerin gleichgesetzt, ein lyrisches Ich wird so gut wie nie vorausgesetzt. Natürlich ist das meistens von den Künstlerinnen und Künstlern so gewollt, da für sie Musik Verarbeitung persönlicher Erlebnisse ist. Dass Songtexte aber auch eine gute, fiktionale Geschichte erzählen können, hat Sheehy an diesem Abend wunderbar deutlich gemacht. Ein Ein-Personen-Musical, ohne Popanz und großem Aufgebot – dafür einfach gut und überzeugend.

MATT SHEEHY, 27.05.2017, InDieWohnzimmer, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

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