WIZO, 09.12.2016, LKA, Stuttgart

WIZO

Foto: Steffen Schmid

An der Hecke neben der Tanke, etwa ein Dutzend Männer, aufgereiht wie Fädelperlen, schlagen Wasser ab; wohl eher Dosenbier. Schöne Einstimmung. Dosenbier? Auf dem Weg zum LKA tauschen sich die gesetzten Herren Ende 30 über die besten Craftbeer- und IPA-Einkaufsmöglichkeiten in Stuttgart aus. Schön zu sehen, wenn Band und Fans gemeinsam reifen und altern. Von der Bühne die Frage, wer unter oder über 30 ist:  gleich viele Hände in der Luft.

Das Publikum ist in Stimmung und tanzt schon zur Pausenmusik Pogo. Da kann doch eigentlich nichts mehr schiefgehen. Bevor es losgeht mit der Vorband, kommen die drei WIZOs auf die Bühne und schaffen erstmal familiäre Atmosphäre: Ankündigung vom Support, Vorschusslob fürs Publikum und das Versprechen, dass wir bis auf die Unterhose nassgeschwitzt nach Hause gehen werden. Na, wolln mal seh’n.

Swiss + Die Andern

Foto: Steffen Schmid

Die Vorband SWISS und die Andern aus Hamburg machen Punkrock mit heftigen HipHop-Elementen, hätte man ganz früher als Crossover bezeichnet und erinnert ein bisschen an H-Blockx, Megavier und Beastie Boys. Harte Riffs und Bässe, Djing, Berserker am Schlagzeug heizen ordentlich ein, dazu Sprechgesang mit unzweideutigen Texten („Fick Dich AfD“, „Ich wohn‘ in Schwarz-Rot-Gold mit etwas braun“). Die Stimmung in der mittlerweile rappelvollen Halle ist erstaunlich gut, Pogo, wall of death!

WIZO

Foto: Steffen Schmid

Dann geht es los mit WIZO! Mehrfach aufgelöst oder heimlich, still und leise in der Versenkung verschwunden, mit mehr ehemaligen Bandmitgliedern als aktiven, taucht Gitarrist und Sänger Axel Kurth alle paar Jahre scheinbar aus dem Nichts auf, legt ein Album vor und spielt mit neuem Schlagzeuger und Bassisten eine Tour. Und das beste ist: Wer nach mehreren Jahren Abstinenz wieder reinhört, ist gleich wieder drin. War nie raus. Kann nahtlos anschließen und mitsingen. „Kein Gerede“, „Gute Freunde“, „Keiner ist kleiner (als meiner)“, „Kopfschuss“. Deutschpunk, Linkspunk, Heranwachsendenquatschpoppunk vom Feinsten aus Sindelfingen!

Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland,
keine Gesetze und auch kein Flaschenpfand!
Gegen Regierung und das Kapital,
die Grenzen weg, kein Mensch ist illegal!

Nennt es ruhig Wahnsinn oder Utopie,
ich träume weiter von Anarchie!
(WIZO – Adagio – 2016)

WIZO

Foto: Steffen Schmid

Beginn mit Adagio, dem ganz speziellen Glaubensbekenntnis des kleinen Anarchos, Mitgrölen vom ersten Ton an, danach Raum der Zeit, Bierdusche, der WIZO ist daheim. Das goldene Stück Scheiße, 1994 in einem ganz ähnlichen politischen Klima veröffentlicht, beängstigende Aktualität beschert Gänsehaut. Beim Schnawweldiwabbeldi-Käfer zeigen alle dem Rest der Welt den Punkrock-Awareness-Finger, ihr ahnt es: es ist der mittlere. Hey Thomas (für alle die nicht mehr da sind), Quadrat im Kreis , Verwesung (letzte Single), die Halle tobt. Für viele ist das Konzert eine kleine Auszeit vom Alltag. Ein Blick auf den Bildschirmhintergrund der Pärchen verrät, dass für heute Abend ein Babysitter engagiert werden musste. Vielleicht habt Ihr Euch ja auch bei WIZO kennengelernt? *Hach!*

Egon (Punkrockthema Nr. 1: Patientenverfügung), Kopfschuss über die Vorgänge 1993 in Bad Kleinen. Ich wiederhole: Die Halle tobt! Dann Antifa („Wir sind alle Antifa“) vom neuen Album: Erinnert stark an eine Auftragsarbeit für die Stadionhymne eines Bundesligavereins, gesungen von einer Spielerfrau (vgl. „KSC olé olé, Superteam aus Baden, blau-weiß Powerplay, ihr seid alle eingelaaaaaaaaaden“). Insgesamt also etwas peinlich, aber für Fans mit ein paar Bier im Kopp wahrscheinlich irgendwie identitätsstiftend und gemeinschaftsfördernd. Generell entsteht der Eindruck, dass Mastermind Axel Kurth beim Songschreiben der letzten beiden Alben manchmal ein Korrektiv fehlt, jemand der auch mal sagt: „Mensch Axel, hömma! Das könnte jetzt auch peinlich rüberkommen, daran feilen wir vielleicht besser nochmal.“ Aber ich bin nicht der Deutschpunk-TÜV. Deswegen: Schwamm drüber.

WIZO

Foto: Steffen Schmid

Trotzdem: Wir sind nicht alle Antifa. Um Antifaschist zu sein, reicht es nicht, hier mitzugrölen. Dafür braucht es das Herz am rechten Fleck, Zivilcourage und noch viel mehr. Andererseits ist es ein guter Anfang. Außerdem macht Sänger Axel die fast schon grotesk anmutende Kinder-, Säufer- und Vereinsliedhaftigkeit des Stücks durch seine Ansage nahezu komplett wett: Mit Herzblut und aus voller Überzeugung macht er Mut, gegen Alltagsrassismus und -homophobie einzutreten und dem AFD-Positionen-Onkel, den jeder von uns hat, energisch entgegenzutreten.

Die letzte Sau, über den Schlachthof, der abgerissen werden soll, wird aus nahezu allen Kehlen mitgesungen: Die Wut und Enttäuschung über Wandel, Fortschritt, städtebauliche Veränderung – vielleicht auch einfach nur über den Abriss eines alten Schlachthofs – hallt noch lange nachdem WIZO die Bühne verlassen haben durch das LKA. Minutenlang geht das so, bis zur Zugabe. Zum globalisierungskritischen Apocalypso werden kleine Gummiboote ins Publikum geworfen, die prompt zum Crowdsurfen genutzt werden. Aber bald ist die Luft raus und sie fliegen schlaff über die glühenden Köpfe.

WIZO

Foto: Steffen Schmid

Nicht so bei WIZO; nach zwei Stunden auf dem Bühne: Kein Gerede. Der Star auf jedem Mixtape, indiziert wegen des Aufrufs zu Straftaten, die links-alternative Hymne der 90er, wiederum gesungen aus 1000 Kehlen. Nach Kein Empfang und Alte Frau ist klar: Es geht zu Ende. Aber weder Band noch Publikum wollen nach Hause und so wird das Ende lange hinausgezögert. Keiner will raus aus diesem Flashback, aus dieser Blase, zurück zu Mann/Frau/Familie und am Montag ins Büro. Irgendwann ist es dann doch so weit, es werden noch Devotionalien (Shirts, Schlagzeugfelle, benutzte Handtücher) auf die Hängeiros im Publikum geworfen und die völlig erschöpften Fans auf morgen und auf die nächste Tour vertröstet, wenn zusammen mit den Brieftauben der Tourabschluss gefeiert wird.

Das Ganze wirkt wie eine Zeitreise in die 90er, in die Zeit des Älterwerdens. Wie letzte Woche bei Feine Sahne Fischfilet. Da kam die Erinnerung plötzlich wieder: Kleingrüppchen von 16- bis 20-jährigen, ausgelassen, euphorisiert, betrunken, abwechselnd einen Riesenbapp und einen Heidenstuss rausschwätzend, schon auf der Hinfahrt mit dem Zug jeder ein Sixpack geleert, bis zur Rückfahrt noch acht Stunden bei Minusgraden am und um den Bahnhof einer fremden Stadt zubringen, die einen nicht will und auch nicht versteht.

WIZO

Foto: Steffen Schmid

Wenn ich mich nur erinnern könnte! So muss das gewesen sein. Schön eigentlich. Es beruhigt, dass sich die Uhr mit einem WIZO-Konzert einfach zurückdrehen lässt, zumindest für ein paar Stunden. So scheint es einigen zu gehen, die hier heute abend Trost erhalten und Zuversicht geschöpft haben. So muss Kirche sein, wenn man dran glaubt. In der Stadtbahn dann: Pogowunden lecken, zeigt her Eure Schuhe. Siffig? Wir waren da, wir sind am Leben, eine letzte Selbstbestätigung, bevor es wieder zurück ins richtige Leben geht.

Ich bin schwul, ich bin jüdisch und ein Kommunist dazu
Ich bin schwarz und behindert, doch genauso Mensch wie du
Ich bin hochintelligent und doch so doof wie Sauerkraut
Ich bin schön, ich bin häßlich, ich bin fett und gut gebaut
Es gibt nichts – nichts was dich besser macht als mich
denn auch du hast deine Fehler, deine Fehler so wie ich
und die Fehler sind nix falsches, sie gehören zu dir und mir
und wenn du’s nicht auf die Reihe kriegst kann niemand was dafür

Du bist einer von Milliarden und das musst du akzeptier’n.
Du bist einer von Milliarden Ärschen auf der Welt

Deine Werte, deine Normen, die Moral und das Gesetz
sind entbehrlich und ersetzbar – überflüssiges Geschwätz
Heute gültig, morgen nichtig, übermorgen umgekehrt
was hier richtig oder wichtig ist woanders ohne Wert
Deine Götter, deine Kirchen, Glauben, Beten, Religion
heute heilig, morgen Frevel, übermorgen blanker Hohn
Und das Geld und der Ruhm und die Unvergänglichkeit
sind bei näherem Betrachten – für’n Arsch

Du bist nicht der Mittelpunkt des Universums
Du bist nur ein Arsch im Raum der Zeit
A E D C D C A G – A E D
A E D C D C A G – A E D

Du bist nicht der Mittelpunkt des Universums
Du bist nur ein Arsch im Raum der Zeit
FICK DICH!
(WIZO – Raum der Zeit – 1994)

WIZO

Foto: Steffen Schmid

WIZO

Swiss + Die Andern

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