PLACEBO, THE JOY FORMIDABLE, 24.11.2016, Schleyerhalle, Stuttgart

Placebo

Foto: Steffen Schmid

Zum dritten Mal in diesem Jahr befinde ich mich gemeinsam mit einer fünfstelligen Zahl von Besuchern in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle und jetzt kann ich es auch verraten: Dahinter steckt ein lang ausgeklügelter Plan, meine persönliche Schleyerhallen-Trilogie. ScorpionsThe CurePlacebo. 50 – 40 – 20, so lauten die jeweiligen Jubiläums-Zahlen der Bands. Und alle tragen ein C in ihrem Bandnamen. Verschwörungstheoretiker bitte ich, ihre Theorie auf einen Bierdeckel mit frankiertem Rückumschlag an gig-blog.net zu schicken. Danke.

The Joy Formidable

Foto: Steffen Schmid

Die Vorband „The Joy Formidable“ verpasse ich, was höchst bedauerlich ist, wenn man sich den Bericht aus 2013 von Kollege Holger nochmals zu Gemüte führt. Wie schon der Support von The Cure (The Twilight Sad) Anfang November vollzieht die walisische Band den riesigen Schritt von der Intimität des Zwölfzehns auf die Event-Bühne der Stadt. Natürlich auf der einen Seite schade, andererseits sicherlich ein Erlebnis für jede Musikerin und jeden Musiker. Und vielleicht ein Sprungbrett für einen Gig als Hauptact in einer etwas größeren Location als dem Club in der Paulinenstraße. Auf meinem gehetzten Weg zu den Presseplätzen erkenne ich schon die berüchtigten schwarzen Vorhänge, mit denen gut gemeint, aber doch erbarmungslos, die leeren Ränge zugehängt werden. Ca. 6500 Zuschauer wollen die britische Band fünf Jahre nach ihrem letzten Gastspiel auf dem Schlossplatz sehen und hören – nicht wirklich viel bei einer Kapazität von ca. 12.000 (die z.B. The Cure sehen wollten; bei den Hannoveranern waren es immerhin um die 10.000).

Placebo

Foto: Steffen Schmid

Der Auftritt beginnt erst einmal ohne Band. Zwei Schwarz-weiß-Aufnahmen Leonard Cohens rahmen die Bühne ein, und das wunderbare Stück des kürzlich verstorbenen Sängers „Who By Fire“ erklingt in Gänze. Es folgt ein bisher inoffizielles Video zu „Every You, Every Me“ , einem Titel, den ich auch ganz gerne live gehört hätte. So wirkt dieser Beginn in etwa so, als ob der Gastgeber der Geburtstagsparty noch schnell was Richtiges anziehen muss, während sämtliche Gäste schon erwartungsvoll im Wohnzimmer sitzen. Jetzt aber geht’s los, denkt man, aber da folgt dann noch ein etwas undurchsichtiger Video-Schnipsel-Schnelldurchlauf, beginnend 1996 und endend mit dem instrumentalen Einstieg zu „Pure Morning“. Die erste Auffälligkeit ist der aufgeräumte, klare, aber durchaus druckvolle Sound. Die Band um die beiden Gründungsmitglieder Brian Molko und Stefan Olsdal steht bzw. sitzt sehr kompakt auf der Bühne, was nach einem musik-fokussierten Abend aussieht. Das wirkt bis hierhin überzeugend. Jetzt scheint die Party loszugehen, wie Molko auch gleich nochmals mit seiner ersten Ansage bestätigt.

Placebo

Foto: Steffen Schmid

Um ehrlich zu sein, da habe ich schon deutlich flottere Partys erlebt. Eher erinnert mich das von der Begeisterungsfähigkeit an eine Unterstufenfete in der Aula mit DJ HellBell aus der 11a. Zumeist leidlich uninspiriert werden Songs wie „Loud Like Love“, „Nancy Boy“, „Soulmates“ oder „20 Years“ runtergespielt. Bei „Devils In The Details“ (mit faszinierenden Visuals) und „Exit Wounds“ bricht Molko aus der Rolle des routinierten Gastgebers heraus, der solche Feierlichkeiten schon etwas zu oft veranstaltet hat. An diesen Stellen legt er viel Ausdruck in seine, den Sound Placebos maßgeblich prägende, Stimme hinein und unterstützt dies mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik. Da blitzt sein Charisma auf, da ist Leben auf der Bühne zu sehen und eben nicht nur beim dauer-gestresst wirkenden Gitarrenroadie, der Molko nach jedem Song ein anderes Exemplar überreicht. Die ganze Veranstaltung will lange Zeit aber einfach nicht recht in Schwung kommen. Der Mann am Sound legt zur Feier des Tages noch ein paar Dezibel nach, was den klaren Sound des Anfangs vergessen macht. In diesem Zusammenhang versuche ich mehrmals den klanglichen Vorteil der von Fiona Brice mit Vehemenz gespielten Violine herauszuhören – vergebens.

Placebo

Foto: Steffen Schmid

Nach 16 Songs dann die Wendung durch Molkos Hinweis, der Melancholie-Block sei nun vorbei, nun folge der Teil, bei dem man doch bitteschön tanzen solle. Und tatsächlich: „For What It’s Worth“, „Slave To The Wage“, „Special K“ und „Song To Say Goodbye“ enden in einem fantastisch wuchtigen, alle mitreißenden „The Bitter End“, das endlich jenes Feuer der ersten Alben, jene typisch melodisch-verzerrten Gitarren und Molkos hohe Stimme vereinen. Das Publikum nimmt das sichtbar dankend an und ist zum ersten Mal vollständig begeistert. Und dann? Dann verschwindet die Band, das Bühnenlicht bleibt gedimmt, das Hallenlicht aus – die Prozedur ist bekannt. Jedoch bleibt die Band für Minuten hinter der Bühne. Roadies kommen und wechseln Gitarren, machen noch einen Linecheck. Als ich mich schon zu fragen beginne, ob etwas Unvorhergesehenes passiert sei, erscheint die Band, die zum Ende hin entfachte Begeisterung ist allerdings auf grandiose Weise verpufft. Noch drei unspektakuläre Songs, nochmals von der Bühne und das lieblos intronierte Kate-Bush-Cover „Running Up That Hill“ beschließen diesen alles in allem enttäuschenden Abend.

Enttäuschend deswegen, weil ich diese tolle Band schon so viel besser erlebt habe. Enttäuschend deswegen, weil so viel Zauber verflogen ist.
Enttäuschend deswegen, weil es sich nach einem Routine-Abend anfühlt.

Placebo

Foto: Steffen Schmid

Und spätestens, als ich mich dabei ertappe, dass ich zudem enttäuscht bin, weil Placebo für meinen Geschmack zu wenige Songs des meine Anfang-20er-Zeit prägendes Album „Sleeping With Ghosts“ gespielt haben, erkenne ich die Ironie meines dritten Schleyerhallen-Besuchs in diesem Jahr. Ich bin in die Erwartungs-Falle getappt, wie viele wenige Wochen zuvor an selber Stelle. Auch für mich lassen sich die mit Placebo verbundenen persönlichen Gefühle und Erlebnisse vor 13 Jahren genauso wenig wiederbeleben wie für viele die der 80er bei The Cure. Bei beiden Abenden kommen massive dramaturgische Patzer hinzu, welche die hohen Erwartungen und die Vorfreude auf ein überschaubares Maß an Freude über ein mittelmäßiges Rockkonzert eindampfen lassen. Wahrscheinlich muss ich hinter diese musikalische Episode einen Haken setzen und von Zeit und Zeit bei den ersten Takten von „Bulletproof Cupid“ an den Sommer 2003 denken – ein weiteres Konzert in der Schleyerhalle benötige ich für diese Erkenntnis nicht mehr.

Placebo

Foto: Steffen Schmid

Placebo

The Joy Formidable

3 Gedanken zu „PLACEBO, THE JOY FORMIDABLE, 24.11.2016, Schleyerhalle, Stuttgart

  • 26. November 2016 um 08:22 Uhr
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    Willkommen in der „Erwartungsfalle“, lieber Kollege! ;) (Und so ein schöner Verriss ist auch mal ganz erfrischend)

  • 26. November 2016 um 11:58 Uhr
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    Vielleicht ist es der Fluch der Schleyerhalle …

  • 26. November 2016 um 12:02 Uhr
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    Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Erwartungen fahren…

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