NEW FALL FESTIVAL: WILCO, 30.10.2016, Liederhalle, Stuttgart

Konzertbericht: NEW FALL FESTIVAL: WILCO, 30.10.2016, Liederhalle (Beethovensaal), Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Ein bärtiger Mann steht allein im düsterblauen Wald, eine akustische Gitarre in der Hand. Über seinen längeren, zu zwei Zöpfchen geflochtenen Haaren trägt er einen weißen Panama-Hut mit bunter Feder geziert. Ein leichter Bauchansatz spannt das gestreifte T-Shirt und die beige Jacke. Licht spiegelt sich in der großen Brille. Dann fängt er zu feinstem Folk-Fingerpicking an zu singen, schwelgt in Kindheitserinnerungen, erinnert sich an sein jugendliches Selbst „long ago“ und schließt in Aufbruchsstimmung und Verbitterung: „I had to get away from those normal American kids / Always hated those normal American kids“. Es sind die ohne Verbitterung vorgetragenen Leiden eines Mannes mittleren Alters.

Jeff Tweedy und seine Band Wilco sind nach vier Jahren wieder zu Gast in Stuttgart. Der Auftritt im Theaterhaus damals war mein Konzert des Jahres. Die Konsensband unter Indie-Jüngern, Musikredakteuren und Americana-Fanatikern ist mit „Schmilco“, ihrem laut deutschem Rolling Stone besten Album seit über einer Dekade, zurück und Tweedy singt vom Amerika seiner Kindheit, der Welt, der Liebe und dem Schmerz. Die Bühne wird zur Kulisse einer Reise ins Herz alternativer amerikanischer Musik zwischen Rock, Indiepop und Country. Liebevoll und stimmungsvoll dekoriert, erinnert sie tatsächlich an einen Wald. Die wunderbare Lichtgestaltung tut ihr übriges zum bereits optischen Gelingen des Abends.

Konzertbericht: NEW FALL FESTIVAL: WILCO, 30.10.2016, Liederhalle (Beethovensaal), Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Während Tweedy noch seine hübsche Außenseiterballade singt, kommen nach und nach seine fünf Bandkollegen auf die Bühne. Man geht thematisch passend direkt in das sehnsüchtelnde „If I Ever Was A Child“ mit fantastischem Orgelpart und anschließend in „Cry All Day“ über. Erster Szenenapplaus honoriert die musikalische Klasse und den dramaturgisch geschickten Beginn mit den ersten drei Stücken des aktuellen Albums. Dass Wilco zurecht als eine der besten Bands der vergangenen zwanzig Jahre gelten, beweisen sie mit „I Am Trying To Break Your Heart“ vom gefeierten Album „Yankee Hotel Foxtrott“ (2009). Hier verschiebt sich der Sound von Americana immer wieder gen Jazz und Krautrock. „Art Of Almost“ schließt genau an der Stelle an, ist ein erstes großes Highlight des Konzerts: Krautig, mitunter elektronisch, brachial, sanft, immer druckvoll, zeigt sich hier eindrucksvoll der variable Wilco-Sound. Fulminant ist das Zusammenspiel der Musiker, das in einer Jam-Session mündet.

Konzertbericht: NEW FALL FESTIVAL: WILCO, 30.10.2016, Liederhalle (Beethovensaal), Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

So exaltiert und perfekt das Spiel der Gruppe ist, so zurückhaltend gibt sich Tweedy in den Ansagen. Selten richtet er das Wort ans Publikum, lässt die Songs sprechen. Diese durchzieht ein lakonischer Blick auf Alltag, Vergangenheit und Zukunft. Man singt Hymnen auf die Unverstandenen, die Tristesse und vertont auch mal mit Billy Bragg Woody-Guthrie-Songs. „When you’re back in your old neighborhood / The cigarettes taste so good / But you’re so misunderstood“, heißt es im Klassiker „Misunderstood“. Wilco ist das Band Alter Ego von Becks „Loser“. Ein Konzert ist ein regelrecht kathartisches Erlebnis. „Via Chicago“ zeigt das deutlicher als andere Songs. Die sanften Strophen und der fast liebliche Refrain werden von wüstem Krach unterbrochen – immer wieder. Das Publikum erwartet das, erschreckt sich dennoch und ist aus dem Häuschen.

Konzertbericht: NEW FALL FESTIVAL: WILCO, 30.10.2016, Liederhalle (Beethovensaal), Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Tweedy wackelt mit dem Kopf, seine Zöpfchen schwingen hin und her. Er grinst, zwingt uns bei „Bull Black Nova“ in unseren Sitzen zu tanzen. Er scheint sich darüber zu amüsieren – sagt aber nichts. Der funkig-krautige Sound ist geradezu hypnotisch, wird unheimlich. „It’s in my head“, singt Tweedy, während das Licht die Bühne gespenstisch erleuchtet. Unwillkürlich kommt einen The Cures „A Forest“ in den Sinn. Wilco verlaufen sich nicht, der virtuose Gitarrist Nels Cline spielt ein locker daherkommendes Solo, das einen die Sinne raubt.

Konzertbericht: NEW FALL FESTIVAL: WILCO, 30.10.2016, Liederhalle (Beethovensaal), Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Die zweite Konzerthälfte ist von wahnsinnig tollen Stücken wie „Box Full of Letters“ oder „Heavy Metal Drummer“ geprägt. Schlechte Songs gibt es keine und mit dem fulminanten „Impossible Germany“ einen echten, geradezu ekstatischen Höhepunkt. Und als Tweedy im letzten Drittel langsam auftaut, folgt ihm das Publikum gerne nach: „Gestern in Düsseldorf war es ganz ähnlich wie hier. Alle waren sehr aufmerksam und sind erst für die Zugaben nach vorne gelaufen“, erzählt er: „Ich glaube, sie haben bereut, es nicht vorher getan zu haben“. Die Zuschauer im bestuhlten Beethovensaal folgen der indirekten Aufforderung und so darf für die letzten zehn Songs doch noch einmal getanzt werden – ganze zehn Songs inklusive vier Zugaben (darunter das atemberaubende „Jesus, Etc.“) lang.

Konzertbericht: NEW FALL FESTIVAL: WILCO, 30.10.2016, Liederhalle (Beethovensaal), Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Nach deutlich über zwei Stunden endet mit dem collegerockigen „A Shot in the Arm“ ein Konzert, das sich in sämtlichen Jahresbestenlisten der anwesenden Fans finden wird. Selten hat man etwas Besseres zu sehen bekommen! Das Saallicht geht an. Der Wald steht still und schweiget.

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