CHILLY GONZALES & KAISER QUARTETT, 23.11.2015, Liederhalle, Stuttgart

Chilly Gonzales

Foto: Steffen Schmid

Lieber Chilly, ich darf Dich doch Chilly nennen,

Du bist schon ne coole Socke. Oder besser: coole Puschen trägst Du, nebst Bademantel. Wie auch immer; jedenfalls sehr cool, wie Du auf Deiner Klavierbank stehst und sagst:

Okay, I’m not a musical genius.

Und das Publikum dazu bringst, Dich zu bedauern. Gut, Du hattet zu diesem Zeitpunkt ja auch schon eineinhalb Stunden darauf hingearbeitet mit Deinen wundervollen Kompositionen, Deinem Spiel, Deinen musikalischen Begleitern, den Streichern des Kaiser Quartetts. Und nicht zu vergessen: Deinem Witz.

Schön gemacht, wie Ihr am Anfang erst mal Sweet Burdon und Odessa ohne Begrüßung spielt, und uns damit vom Alltagsstress abholt. Dann erzählst Du davon, dass es schön sei, hier im großartigen Beethovensaal spielen zu dürfen, Ihr kämet gerade von einer Tour aus Frankreichzurück – in dieser Sekunde tut es einen Schlagund die Lichtanlage zuckt.

Don’t say France ;-)

meinst Du süffisant und plapperst weiter. Die einen im Publikum lachen, die anderen grummeln verunsichert. Der böse Spaß ist gleich vergessen, weil Du bekennst, dass Du an uns Deutschen das Schunkeln so magst. Wir trügen das in unserem genetischen Code. Allein das Wort sei schon so schön… Und bevor die graumelierte Dame in Abendgarderobe denken könnte, dass der Abend doch zu albern werden wird, streichst Du ihr gewaltig hinter in die Ohren, dass sie es hier nicht mit einem beknackten TV-Comedian zu tun hat, sondern mit Jason Charles Beck alias Chilly Gonzales, der es fertig bringt, mit seinen kurzen Klavier- und Streicherstücken eine musikalisch-intensive Tiefe zu erreichen, wie es sonst eben nur die Namensgeber der Liederhallensäle geschafft haben. In Popsonglänge gelangst Du an die Essenz des jeweiligen musikalischen Themas. Und sie haben etwas erzählerisches, es entspinnen sich Geschichten beim Zuhören, die je nach eigenem Befinden sich unterschiedlich entwickeln (das Video „Advantage Points“ vom neuen Album Chamber zeigt beispielsweise eine mögliche Interpretation). Das fasziniert mich. Deine Alben „Solo Piano I“ und „II“ habe ich wie in Teenagerzeiten rauf- und runtergehört. Aber ich bin wohl damit nicht allein, es sind zumindest heute Abend etwa 800 Zuhörer gekommen, um Dich und das Kaiser Quartett zu hören.

Aber Chilly, ich muss Dir allerdings etwas sagen. Es gibt noch einen auf dem Planeten, der das so gut kann wie Du: Ryūichi Sakamoto, hör Dir „Rain“ oder „Energy Flow“ mal an. Auch der spielt oldschool Klavier, aber der kann noch mehr, der macht Filmmusik, macht elektronische Musik und macht noch viel mehr.

Gut, Du hast ja auch so ein paar Kleinigkeiten am Wegesrand erledigt wie Leslie Feists Dekaden-Durchbruch-Album „Let It Die“ produziert. Und seit jeher rapst Du gerne, Deine Worte hast Du uns ordentlich um die Ohren gehauen.

Ja, okay, und Du hast uns vorgeführt, wie Du das Kaiser Quartet als world´s most expensive sampler einsetzen kannst und damit einen stummen Instrumental Rap Track live produziert, den Du dann mit einem lauten

Bitch

abschließt.

Das ist lustig, aber auch ein bisschen selbstgefällig. Überhaupt, Deine Rapsachen, die finde ich eher anstrengend. Zu überambitioniert. Da wertschätze ich vielmehr Deine Koops mit Boys Noize, Ihr nennt Euch da ja Octave Minds, tolles Album, letztes Jahr. Warum selbst elektronische Musik machen, wenn das andere viel besser können? Hey, und Du hast kürzlich das Livekonzert vom September mit Boys Noize und dem Kaiser Quartett auf dem Berliner Teufelsberg hier veröffentlicht, Wahnsinn!

Wenn gute Leute mit guten Leuten an sagenhaften Orten spielen, führt das vermutlich dazu, dass man am sich Ende im Beethovensaal in der Liederhalle auf den Klavierhocker stellt, wartet, bis Tontechniker Klaus das Mikro auf entsprechende Höhe einstellt, ihn mit gespielter Entrüstung

Das hat sehr lange gedauert!

abkanzelt und auf dem Brustton der Überzeugung ausruft

I am a musical genius!

Und das Publikum jubelt.

Schon klar, das ist nicht ganz ernst gemeint. Aber ein bisschen eben doch. Und warum auch nicht? Es ist die verbalisierte Rockstarpose, oder besser: Rapstarpose. Nur Du machst das im Bademantel und Buckel.

Chilly, was soll ich sagen: Du nimmt den Mund ganz schön voll, aber Du lieferst halt auch. Respekt. Never Stop!

Dein bertramprimus

Chilly Gonzales

Foto: Steffen Schmid

PS: Falls Du mal Deine Setlist vergessen solltest, hier kannst Du sie nachlesen:

Sweet Burden
Odessa
Green Leaves
Sample This
Prelude To A Feud
Kenaston
White Keys
Minor Fantasy
Advantage Points
Supervillain Music
The Grudge
Midnight Express
Meet The Quartet
Dot
Armellodie
Knight Moves
Bad Decision
Smothered Mate

1st encore
Rideaux Lunaires
Self Portrait
Not A Musical Genius

2nd encore
Never Stop (Udo Jürgens)

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