JÓN GNARR, 10.06.2015, Merlin, Stuttgart

JÓN GNARR, 10.06.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Die Geschichte ist einfach zu schön, um wahr zu sein. Ein vernachlässigtes Kind aus traurigem Elternhaus, Schulversager, Punk und Tagedieb wird zum Komiker. Gründet eine Spaßpartei, wird zum Bürgermeister einer europäischen Hauptstadt, reißt diese aus der Finanzkrise und tritt nach vier Jahren auf dem Höhepunkt seines Erfolgs aus der Politik aus. Kein Politmagazin, keine Kultursendung in den letzten Jahren, in der Jón Gnarrs verwegene Biografie nicht so oder ähnlich dem staunenden Publikum präsentiert wurde. Dieser Isländer ist ein internationaler Medien-Liebling.

JÓN GNARR, 10.06.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Kein Wunder also, dass das Merlin komplett ausverkauft ist, wenn sich Jón Gnarr zu einer Lesung ankündigt. Sein aktuelles Buch „Indianer und Pirat“ wurde auf deutsch übersetzt und erscheint im Tropen-Verlag. Und da dieser eine Tochter des Klett-Verlags ist, führt Gnarrs Lese-Tournee auch nach Stuttgart und bringt weltmännischen Glanz ins Merlin.

JÓN GNARR, 10.06.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Dort hat man, um Jón Gnarr einen kompetenten Gesprächspartner gegenüberzustellen, keinen geringeren als Oliver Maria Schmitt angeheuert. Seines Zeichens Mitherausgeber der TITANIC, Ehrenvorsitzender der Partei DIE PARTEI und gescheiterter OB-Kandidat in Heilbronn und Frankfurt. Da sind Parallelen in der Biografie zu erkennen. Altersmäßig und auch hinsichtlich ihrer musikalischen Sozialisierung könnten die beiden fast bei Geburt getrennte Zwillinge sein. Ideale Voraussetzungen  für einen vergnüglichen Abend. Den übrigens die zweite Hälfte des Publikums im Merlin-Café genießen kann, wo angesichts des Andrangs spontan eine Video-Übertragung eingerichtet wurde.

JÓN GNARR, 10.06.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Mit einer wilden schwäbisch-englischen Mischung eröffnet Schmitt den Abend und leitet mit der vergleichenden Beschreibung ihrer beider Biografien ein, bevor erste Ausschnitte aus Gnarrs aktuellem Buch gelesen werden. „Indianer und Pirat“ ist der erste Teil seiner Autobiografie und behandelt Kindheit und Jugend eines Außenseiters im Reykjavík der 1970er- und 1980er-Jahre.

JÓN GNARR, 10.06.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Und so polterig und laut der Dialog der beiden Herren bis hierher war – Gnarrs durchdringendes Lachen steckt jedesmal den halben Saal an – so leise und berührend sind die darauf folgenden Einblicke in Jón Gunnar Kristinssons Kindheit. Das Stigma der Rothaarigkeit, das gespannte Verhältnis zu seinen Eltern, die Verlorenheit eines Außenseiters, das alles beschreibt er lapidar, sehr anrührend und mit stillem Humor, ohne dabei rührselig zu werden. Das Manko, dass der Autor den deutschsprachigen Text nicht selbst zum Besten geben kann und eine Lesung im isländischen Original mit anschließender Übersetzung wenig sinnvoll und zeitraubend ist, wird durch das Engagement eines professionellen Sprechers mehr als gut gemacht. Es ist ein echter Glücksfall, dass die Texte vom Schauspieler und Sprecher Frank Streichfuss gelesen werden. Mit seinem ruhigen, fein nuancierten Vortrag sorgt er für gespannte Stille und Gänsehaut-Momente im Saal. (Das sollte man zum Standard für Lesungen machen, denn nicht jeder der schreiben kann, kann auch lesen.)

JÓN GNARR, 10.06.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Drei Lesestellen gibt es zu hören, dazwischen werden einige Episoden des Buches, seine Jugendliebe Nina Hagen, die Sommerverschickung auf eine Schaf-Farm, Gnarrs denkwürdiger Auftritt als Metzgers-Helfer mit Irokesen-Frisur und seine Punkzeit am Busbahnhof Hlemmur besprochen. Auffällig ist, dass sich Gnarr für seine Antworten gerne etwas Zeit lässt. Er denkt nach, bevor er meist knapp antwortet. Bedauerlich, dass ihm Schmitt hier immer wieder ins Wort fällt.

JÓN GNARR, 10.06.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Im zweiten Teil des Abends verabschiedet sich Streichfuss, es folgt eine Diskussion über Gnarrs Zeit als Bürgermeister von Reykjayik. Oliver Maria Schmitt erhofft sich hiervon wirksame Tipps für seine nächste Kandidatur. Und Gnarr hat viele davon parat. Die wichtigste: egal was die anderen Parteien versprechen, versprich mehr. Die politisch Konkurrenz verspricht einen Vergnügungs-Park bei Reykjavík? Gnarrs „Beste Partei“ verspricht Disney-Land und freien Eintritt. Für den selbsterklärten Anarcho-Surrealisten gibt es keine Grenzen, wenn es darum geht die politischen Rituale ins Absurde zu übertreiben. Dass er sich als frisch gebackener Bürgermeister das Stadtwappen Reykjavíks auf den Unterarm tätowieren lässt, ist allerdings höchst real und wird stolz präsentiert. Es kontrastiert im übrigen sehr schön mit dem Logo der Anarcho-Punk-Band Crass auf dem anderen Unterarm.

JÓN GNARR, 10.06.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Es liegt in der Natur solcher Veranstaltungen, dass vieles nur angerissen werden kann und man zwangsläufig an der Oberfläche bleibt. (Wenn Schmitt etwas weniger über sich und seine Punk-Biografie geredet hätte, wäre etwas mehr Zeit für tieferen Blick in den Jón Gnarrs Kosmos geblieben) Dennoch war es ein beflügelnder Abend. Gerade in Stuttgart, wo sich die Hoffnungen auf frischen politischen Wind im Rathaus inzwischen in allgemeinem Gähnen verflüchtigt haben, wird die Botschaft, dass es zumindest einmal irgendwo eine Alternative gab, mit Freuden aufgenommen.

Und deshalb beenden wir auch unseren Bericht mit einem Zitat:

Viel mehr Bürgermeister auf der Welt sollten sein wie Jón Gnarr!

– Lady Gaga

JÓN GNARR, 10.06.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

3 Gedanken zu „JÓN GNARR, 10.06.2015, Merlin, Stuttgart

  • 13. Juni 2015 um 11:31 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank für den guten Bericht über einen großartigen Abend, die Kommentare zur Rolle des Conférenciers und die Einsicht, dass nicht jeder, der schreiben kann, auch lesen sollte.

  • 16. Juni 2015 um 13:26 Uhr
    Permalink

    Eigentlich ein Pflichttermin für unseren Bürgermeister …

  • Pingback: Wenn der Punk regiert « Omnium Gatherum

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