JENS FRIEBE, GERWALD, 23.01.2015, Merlin, Stuttgart

JENS FRIEBE, GERWALD, 23.01.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Das hätte so ein schöner Abend werden können. Jens Friebe beim Pop Freaks Festival. Schon vor Wochen habe ich sein aktuelles Album auf’s Smartphone geladen und seitdem mit zunehmender Begeisterung bei jeder Gelegenheit mitgesummt. Als Support-Act ist der großartige Gerwald angekündigt, den ich erst kürzlich bei einem Wohnzimmer-Gig ins Herz geschlossen habe. Das Wochenende vor der Tür, ein paar Bierchen im Merlin, eventuell das Tanzbein bewegen und vor allem: keinen Artikel schreiben, einfach nur Spaß haben. Wenn das mal nicht ein perfekter Konzertabend ist.

Aber es kommt mal wieder ganz anders. Kollege Jens ist krank geworden; und nun wird dringend Ersatz gesucht. Wie immer beim Pop Freaks sind ausreichend Kollegen da, die zieren sich aber. Aber es kann doch nicht sein, dass ein Pop-Freaks-Gig von diesem Kaliber unberichtet bleiben soll. Und so stelle ich mich pflichtbewusst in die erste Reihe und gehe meiner Chronistenpflicht nach. Und ich werde es nicht bereuen.

JENS FRIEBE, GERWALD, 23.01.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Erstaunlich, aber das Merlin ist nicht so gut gefüllt wie an den letzten Abenden. Gut hundert mögen es zwar immer noch sein, aber ich hätte angesichts des Line-Ups mehr erwartet. Schon nach wenigen Takten von Dominik Gerwald weiß ich: trotz, oder gerade wegen der noch zu schreibenden Rezension wird dies ein schöner Abend. Was Gerwald – quasi unter Laborbedingungen – im Wohnzimmer geschafft hat, bringt er auch locker auf der großen Bühne. Er hat eine Präsenz und Stimmgewalt, die selbst das plauderfreudige Publikum im Merlin andächtig innehalten lässt. Während sein Kollege JFR Moon an selber Stelle vor ein paar Tagen gnadenlos totgequatscht wurde, hat er den Laden sofort im Griff. Da lacht das Gig-Blogger-Herz, und ich freue mich schon ein wenig, hierüber schreiben zu dürfen. Ganz in schwarz mit seiner wunderschönen, mattschwarzen Gretsch spielt Gerwald finstere Country-Balladen, die – mein Nachbar zeigt auf seinen Unterarm – Gänsehaut-Qualität haben. Auf unsere neugierige Nachfrage, wo eigentlich die angekündigte, wöchentliche Ergänzung des Bandcamp-Projekts „Promises“ bleibe, erfahren wir, dass dieses wegen eines wichtigeren Ziels eingestellt werden musste. Schade, aber demnächst wissen wir wohl mehr…

JENS FRIEBE, GERWALD, 23.01.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Als gegen zehn Jens Friebe die Bühne betritt, ist klar: der strenge Merlin-Zeitplan lässt nur noch einen einstündigen Gig zu. Da gilt es keine Zeit zu verlieren. Und das Trio legt umgehend mit seinem markanten Sound los, den ich jetzt mal ganz locker irgendwo zwischen Elektro, Wave und Schlager ansiedele. Auf dem Programm stehen vornehmlich Tracks des aktuellen Albums “Nackte Angst Zieh Dich An Wir Gehen Aus”. Eben diesem Album, dessen Songs sich in den letzten Tagen so in mein Ohr und Hirn gebohrt haben, dass ich jetzt praktisch alles mitsingen kann. Äh, könnte. Eine besondere Freude: am Schlagzeug steht Chris Imler, dieser markante Trommel-Derwisch, der uns erst vergangenes Jahr eben hier mit Oum Shatt begeistert hat. Mit einer fetten Stand-Tom, einer konventionellen Snare, elektronischen Drumpads und Sticks (an denen er mittels Tape ein Paar Maracas befestigt hat) treibt er den Sound voran. Mit Menjou-Bärtchen, Jogginghose, Kunstleder-Blouson und Kurzarm-Strickware zeigt der Berliner uns Provinzlern auch en passant, wo es modisch lang geht. Oder auch nicht.

JENS FRIEBE, GERWALD, 23.01.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Friebe eilt ja der Ruf voraus, bei der Damenwelt besonders gut anzukommen. Und tatsächlich: vor der Bühne versammelt sich eine Schar aufgekratzter weiblicher Fans. Und sie werden im Laufe des Abends nicht enttäuscht. Jens Friebe trägt nicht nur ein knappes Synthetik-Blouson, er trägt auch nichts darunter (zu vorgerückter Stunde wird er sogar einen Blick auf sein opulentes Brusthaar erlauben). Er ist ein großer Entertainer, der eingängige Popsongs mit Witz und Charme vorträgt. Manchmal aber auch mit einer schlagermäßigen Schmierigkeit, die dem ganzen einen feinen ironischen Unterton verleiht.

JENS FRIEBE, GERWALD, 23.01.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Das Wichtigste aber: Friebe ist eine textliche Wundertüte. Jemand, der ein Album mit „Das mit dem Auto ist egal, Hauptsache dir ist nichts passiert“ betitelt oder Textzeilen raushaut wie „Wir lagen uns in den Armen, oder waren es die Haare“ (Charles de Gaulle), der hat eine Menge Sprachwitz. Abgedroschen, aber diesmal wirklich wahr: Friebes Musik trifft Arsch, Herz und Hirn. Als engagierter Konzertbesucher kann man hier in die Bedrouille geraten: tanzen (wie es ein Großteil des Publikums tut) oder genau zuhören? Natürlich beides. Hier ist Multitasking gefragt.

JENS FRIEBE, GERWALD, 23.01.2015, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Höhepunkte des Programms? Gab es sowohl aus dem Bereich Balladen („Zahlen zusammen gehen getrennt“ oder „Schlaflied“) als auch aus seiner „mittleren und frühen Schaffensphase“ („Charles de Gaulle“, „Lawinenhund“). Großartig auch die Endzeit-Sylvester-Groteske „Warum zählen die rückwärts, Mammi“. Absolut mitreißend und konsequenterweise auch als letzter Titel des offiziellen Programms gespielt: „(I Am Not Born) For Plot-Driven Porn“. Ein veritabler Schrammel-Hit mit unwiderstehlicher Hookline, der durchaus auch von Veronica Falls stammen könnte. Vermutlich demnächst fester Bestandteil in jedem gut sortierten Indie-DJ-Plattenkoffer.

Fazit: Es gibt Konzerte, da macht das Berichten richtig großen Spaß. Da gibt es zu erzählen und Begeisterung zu teilen. Sehr schade für dich, lieber Jens, und gute Besserung. Und für alle, die es aus anderen Gründen verpasst haben sollten: für das aktuelle Album sei hiermit eine unbedingte Kaufempfehlung ausgesprochen!

Jens Friebe

Gerwald

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