DAGOBERT, 10.01.2014, Merlin, Stuttgart

Dagobert

Foto: Steffen Schmid

Januar ist Pop-Freaks-Zeit! Und egal, wie man das Wort „Freak“ übersetzt, mit Dagobert, dem „Schnulzensänger aus den Bergen“ ist dem Merlin ein Glücksgriff für den Auftakt-Gig des zweiwöchigen Festivals gelungen. Denn ob man ihn nun als „Verrückten“, „Sonderling“, „Begeisterten“ oder „Auskenner“ einordnet – irgendwie passt der Schweizer Dagobert Jäger zu jeder dieser Übersetzungen – er ist somit tatsächlich ein Pop Freak. Mit seiner skurrilen Mischung aus Indie-Pop und Schlager hat er sich – zumindest in Deutschland – einen gewissen Kultstatus erspielt. Das Feuilleton und die Musikjournaille feiert ihn. Die Süddeutsche attestiert ihm sogar die Schaffung eines komplett neuen Genres – dem Indie-Schlager.

Mich interessiert aber eigentlich nur eines: Wie kann es sein, dass gestandene Gig-Blogger, auf deren exquisiten Musikgeschmack ich mich bisher verlassen konnte, mit glasigem Blick vom letztjährigen Dagobert-Gig schwärmen, obwohl das Dargebotene doch – zumindest wenn man es sich aus der Konserve erschließt – ganz offensichtlich Kitsch ist? (Wobei ich mir eingestehen muss, dass ich mich bereits beim zweiten Durchhören des Debut-Albums mehrfach beim Mitsummen ertappt habe.) Glücklicherweise hat einer der Kollegen bereits letztes Jahr diese Ambivalenz und das Phänomen Dagobert ausgiebig beschrieben, so dass ich, was die Fakten und das ganze drum herum betrifft, einfach mal auf diesen Artikel verweise, und mich auf den Bericht vom gestrigen Abend beschränken kann.

Ein selten gesehener Andrang herrscht im Merlin, und gegen neun Uhr kommt vom Eingang die Meldung „ausverkauft“. Das Publikum – darunter ordentlich viele junge und alte Hipster – wird mit einem kurzen Vorprogramm von Philipp Bellinger unterhalten. Kurz vor zehn betritt Dagobert dann in einem olivfarbenen Jumpsuit die Bühne. Eine imposante Gestalt: gut einsneunzig, schlacksig, scharf geschnittene Züge, exakter Scheitel, nach hinten geschmalztes Haar. Verständlich, dass die Damen in der ersten Reihe nervös werden. Vor allem, wenn er – in bester Schlagersänger-Manier – immer wieder einzelne von ihnen fixiert und einen kurzen Moment scheinbar nur für sie singt. Sein iPod wird auf einen Mikro-Ständer montiert, liefert das Halb-Playback und bestimmt den Ablauf. Die Zwischenansagen sind höflich und knapp. Ansonsten gibt Dagobert routiniert sein Programm zum besten, das sich aus Teilen seines Debut-Albums und einigen neuen Titeln zusammensetzt.

Musikalisch ist das – sind wir mal ehrlich – grausam. Der Retorten-Sound reicht von Kirmesmusik bis hin zu billigsten Seventies-Schlager-Melodien. Und dies alles mit der jeweils schrecklichsten Soundvariante, die der Künstler seiner Software entlocken konnte. Synthie-Brass und Pseudo-Streicher galore, Schlumpf-Chöre als Background („Ich bin verstrahlt“), alles Elemente, die kein anderer wagen würde. Geradezu erfrischend sind dagegen die Titel, bei denen Dagobert von Bellinger auf dem Piano oder der beeindruckenden Leucht-Gitarre begleitet wird. Aber so offensichtlich trashig dies auch alles ist, Dagobert trägt seine Titel im vollen Ernst und ohne jede Andeutung von Ironie vor. Das Publikum juchzt dennoch, feiert den schrägen Star, leichte Dieter-Thomas-Kuhn-Atmosphäre macht sich breit. Aufforderungen zum Mitsingen werden gerne angenommen, nicht nur „La-La-La“, sondern ganze Refrains kommen textsicher aus dem Saal. Ja, hier haben sich offensichtlich einige Fans versammelt.

Die Songtexte loten ein Riesen-Spektrum aus: von genial über banal bis hin zu peinlich. Wunderbare Zeilen wie

Du bist viel zu schön, um auszusterben
Lass deine Kinder deine Schönheit erben

treffen auf Pseudo-Tiefgang und No-Gos aus dem Reime-Lexikon (versöhnen, verwöhnen). Längst vergessene Schlager-Schnipsel („Scha-La-la, Schu-Bi-Du“) und furchtbare Platitüden („Frauen sind zum heiraten da“). Und genau dies ist der Reiz von Dagoberts Musik. Ob Texte oder Musik: An keiner Stelle weiß man, wo der Ernst aufhört und der Spaß beginnt. Der Weg vom grandiosen Indie-Songwriter („Ich bin zu jung“) zum peinlichen Entertainer im Humpta-Humpta-Tätära-Stil von Tony Marshall ist erschreckend kurz. Aber alle Titel trägt der (angeblich) bekennende Flippers-Fan mit der gleichen Inbrunst und großen Gesten vor. Kein ironisches Grinsen signalisiert: ist doch alles nur Spaß! Seine butterweiche Intonation mit stimmhaften „Sch“ und gehauchtem „V“ und Pfeif-Einlagen im Stil von Roger Whitacker gießen noch eine zusätzliche Schicht Zuckerguss über die Songs.

Eines findet Dagobert wirklich lustig: dass ihn das Zeitgeist-Magazin GQ gerade zum bestangezogenen Schweizer gekürt hat. Angeblich hat seine Schwägerin seine Klamotten geschneidert. Im Laufe des Konzerts – auch hier ganz großer Star – zieht er sich mehrfach um (wobei der Lederblouson im dritten Teil des Gigs sicher nicht zu der oben genannten Auszeichung beigetragen hat).

Keine Frage: Der Abend ist außergewöhnlich und höchst unterhaltsam. Zu seinem Hit „Ich bin zu jung“ legen sich alle nochmal voll ins Zeug, der Saal singt den kompletten Refrain allein. Dagobert hat Charme, ist äußerst sympathisch und hat absolute Entertainer-Qualitäten. Und als er sich gegen Ende des Gigs bei „Verstrahlt“ das Mikrofon bis zum Anschlag in den Hals schiebt – eine so eindeutige Persiflage auf die enge Mikrofon-Führung der Schlager-Heinis – da nehmen wir erleichtert zur Kenntnis: na, dies ist doch alles nicht wirklich ernst gemeint.

Nur eines ist nun wirklich nicht wahr: Dass Dagobert mit der „Nati“, der Schweizer Nationalmannschaft, den WM-Song für Brasilien einspielt. Mir dies ins Ohr zu flüstern, das ist der nur allzu durchschaubare Versuch des werten Gig-Blog-Kollegen, ein Gerücht in die Welt zu setzen. Nice try. Wobei: eigentlich wär’s eine wunderbare Idee!

Dagobert

Foto: Steffen Schmid

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