CHILLY GONZALES, 08.07.2013, Jazz Open, Mercedesmuseum, Stuttgart

Chilly Gonzales

Foto: Wolf-Peter Steinheißer

Chilly Gonzales ist ein umtriebiger Zeitgenosse. Er lebte in Berlin als es für Nordamerikaner hip war (um 2000), verkehrte dort mit Peaches und Leslie Feist und spielte einige wunderbare Alben ein (Gonzales Uber Alles, The Entertainist, Presidential Suite) mit sagenhaften Schätzen wie Let’s groove again und Take Me To Broadway. Gonzales bezeichnet sich abwechselnd als „the greatest entertainer of the year“ und „the worst MC“. Beides ist nicht komplett falsch, aber Musikalität, unglaubliche Kreativität und eine gehörige Portion Anarchismus machen ein Gesamtkunstwerk aus Jason Beck, der 1972 in Kanada zur Welt kam.

I got an extra testicle
But you’re skeptical about spectacle
These days bad taste is so delectable
And the crowd is so suggestible

Jetzt spannendes Experiment: Wie reagiert der durchschnittliche deutsche Jazzfreund (sprich: Jatzfreund), der rund fünfzig Lenze zählt, gerne die Beine übereinanderschlägt, den Kopf leicht schief legt und als höchstes der Gefühle mit den Fingern rhythmisch auf das beige bebundfaltenhoste Knie patscht? Denn Gonzales macht nicht 100% ernsthaften Jazz. Darin ähnelt er Helge Schneider, der auch als hervorragender Musiker gilt. Beide haben auch bereits die eine oder andere „piano battle“ ausgefochten.

Überraschung: Das Publikum sieht ganz anders aus als gedacht. Es ist altersmäßig gut durchmischt, ziemlich aufgeschlossen und lässt sich vollkommen ein auf Chilly Gonzales. Mit großem Ernst und noch größeren Gesten spielt er mehrere Stücke seiner beiden Solo-Piano-Alben und freut sich mit verschmitztem Lächeln über den Applaus. Beim ersten Sprechgesangeinsatz geht zwar noch ein Raunen durch die vollen Ränge aber schnell hatte man sich daran gewöhnt, dass da einer sitzt, der nicht nur an den Tasten gut ist, sondern noch mehr Talente besitzt, die er nicht verstecken will. Und so kommt man sich vor, wie in der musikalischen Früherziehung, wenn Gonzo zwischen den Rhythmen 4/4-Takt (four on the floor) und 3/4-Takt (Walzer) hin- und herspringt und schließlich einen von frenetischem Jubel begleiteten Rap im 6/8-Takt hinlegt. Er spielt Beethovens Fünfte auf den Bongos und Happy Birthday in Moll („Another year gone by“), erklärt die Wirkung von Dur und Moll (Bruder Jakob in Dur: „When I hear that, I hear fascism“, Bruder Jakob in Moll: „Bruder Jakob is not sleeping, cause Bruder Jakob is dead“), oszilliert zwischen Eminem (Musical Genius) und schwülstiger Filmmusik (Goodbye Hero). Dabei kommen ihm seine grandiosen Entertainerqualitäten zugute, es kommt keine Minute Langeweile auf. Stuttgart wird mit Augenzwinkern erwähnt („Stuttgart, where rap was born“) und das Publikum zum Singalong animiert („like woreshipping god or mercedes“), was erstaunlich gut klappt und vor der Kulisse des Mercedesmuseum irgendwie gruselig ist. Begleitet und wundervoll ergänzt bei alledem wird Gonzales von einem Streichquartett, das auf den naheliegenden Namen Kaiserquartett hört und aus Hamburg kommt.

I love the crowd, I hate the crowd
I constantly constipate the crowd
No shit – Chilly put the ants in your pants
Aw shit just to put you in a trance

Man hat den Eindruck, dem Kerl gelingt alles und was er anfängt, macht er unfassbar gut, ob Gonzo-Rap oder klassische Musik. Als er am Ende auch noch das Jazz-Genre bedient („Wir jatzen jetzt! Wir jatzen uber den Regenbogen!“), bleiben wirklich kaum Wünsche offen und Chilly Gonzales hinterlässt ein begeistertes Publikum, das noch minutenlang nicht glauben möchte, dass das Konzert zu Ende ist.

No I don’t wanna make you bounce
I wanna be loved and hated in equal amounts
No I don’t wanna make you bounce
I wanna be loved and hated in equal amounts
(Chilly Gonzales: Take Me To Broadway)

Ein Gedanke zu „CHILLY GONZALES, 08.07.2013, Jazz Open, Mercedesmuseum, Stuttgart

  • 10. Juli 2013 um 09:01 Uhr
    Permalink

    Solo Piano I und II laufen bei mir rauf und runter. Piano-Pop im besten Sinne.

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