RAMMSTEIN, 10.12.2011, Schleyerhalle, Stuttgart

Foto: Steffen Schmid

1996 hatten wir in der Orkus-Redaktion eine Kontroverse bezüglich der Bilder für einen Rammstein-Artikel. Es ging um ein Live-Photo von Till Lindemann, auf welchem ihm ein riesiger Penis aus der Hose ragte, mit dem er sich selbst ins Gesicht ejakulierte – oder ob der Flüssigkeitsmenge wohl eher pisste (weshalb mancher Redakteur das Bild intern liebevoll ironisch „Till Pisser“ nannte). Die Frage war: Würde jemand auf die Idee kommen, dass es sich dabei um das echte erigierte Körperteil handelt, und würden wir infolgedessen Probleme wegen des Abdrucks bekommen? Natürlich bekamen wir keinen Ärger, und auch die Band bekam keinen. Aber nur ein paar Jahrzehnte zuvor noch hatte Jim Morrison in Miami noch die Erfahrung gemacht, dass man auch mit obszönen Aussage und angedeuteter Masturbation eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten riskierte.

Heute wie in den 90ern kann Till Lindemann unter den Augen der natürlich anwesenden Polizei auf der Bühne mit seinem Dildo herumspielen, Selbstbefriedigung vortäuschen und literweise ins Publikum spritzen wie Gwar. Es stört keinen und interessiert nur diejenigen, die es unten in der Menge als gute Show bejubeln wollen.

Überhaupt muss man Rammstein ja nicht lieben. „This is not a love song“, heißt es ja in Anlehnung an den PiL-Klassiker schon in Rammsteins „Amerika“. Man kann argumentieren, dass sie in obszöner Weise um Aufmerksamkeit buhlen, wie sie es selbst in „Ich will“ besingen. Und dann diese Gier bei den Eintrittspreisen! Da muss es auch vielen eingefleischten Fans vergangen sein, auch wenn die Schleyerhalle ausverkauft ist. Wehe, wenn dafür nicht ein einigermaßen angemessener Gegenwert geboten wird. Etwas zum Meckern wird sich leicht finden lassen.

Der Jubel, mit dem das Publikum auf das verlöschende Licht reagiert, geht unter in Zischen und metallischem Greinen, als sich eine etwa 25 Meter lange Brücke Funken sprühend und Dampf ausstoßend von der Hallendecke herunter senkt, um die Bühne mit einem vielleicht fünf mal sieben Meter großen Podest in der Hallenmitte zu verbinden. Die Security bahnt einen Pfad diagonal durch den hinteren Teil des Publikums. Nacheinander ziehen die Berliner – eine Fackel sowie die Baden-Württembergische und die Rammstein-Fahne tragend – in die Halle ein und ersteigen dieses Podest, das langsam abhebt. Gemessen schreiten die Musiker über die Brücke zur riesigen Bühne mit ihren seitlich erhöhten Plattformen und dem Drumriser in voller Breite. Hier beziehen Schlagzeuger Christoph Schneider, Keyboarder Flake Lorenz und Bassist Oliver Riedel Platz, während sich Sänger Till und die Gitarristen Richard Kruspe und Paul Landers vorne platzieren. Die Brücke verschwindet wieder an der Decke. Es kann losgehen.

Und dann beginnt tatsächlich ein Konzert, das Rammstein vom Verdacht der Hybris zunehmend rein wäscht und ihnen das Sigel beeindruckender Gigantomanie aufdrückt.

Zuerst mal das Kleinklein: Der Trick, mit einem Schlauchboot über das Publikum zu fahren, ist ja schon recht alt – tatsächlich habe ich Ähnliches 1995 schon mit Surfboard bei Dog Eat Dog gesehen –, und es gehörte ursprünglich zu dem Stück „Seemann“, das allerdings nicht gespielt wird. Heute macht Flake zu „Haifisch“ (achtes Stück) eine Rundfahrt durch die vordere Hallenhälfte. Während das noch beinahe jede Band nachmachen könnte, und man in der Regel auch mit Beleuchtung rechnen kann, sind die frei beweglichen runden und kreuzförmigen Scheinwerferblöcke über der Bühne schon etwas dicker aufgetragen. Diese werden schon beim ersten Stück „Sonne“ eifrig in Gruppen mal hoch, mal runter gezogen und gekippt. Bei „Links 2 3 4“ (zehntes Stück) kommen nochmal vier Scheinwerferquadrate an der Bühnen Rückseite dazu.

Neben den Scheinwerfern und der Brücke hat Rammstein noch ein weiteres bewegliches Teil in petto, nämlich einen großen Ventilator, der – sechs Meter im Durchmesser – zu „Mein Herz brennt“ (16. Stück und erstes der Zugabe) unvermittelt von der Decke klappt. Er bläst Nebel von oben auf die Bühne und passt mit seinen beleuchteten Rotorblättern und seiner rostigen Großindustrie-Optik gut ins Gesamtbild der Bühne. Backdrops dagegen sind nichts, was man nicht schon gesehen hätte, auch wurden sie schon von anderen Bands wie Machine Head als Projektionsfläche verwendet. Origineller ist es allerdings, wenn in jener gelegentlich projizierten Stadtkulisse im Stile eines expressionistischen Stummfilmes plötzlich Licht aus einzelnen Fenstern strahlt wie ebenfalls zu „Links 2 3 4“ oder wenn Lichtbänder von hinten durch das Backdrop scheinen wie bei „Du hast“ (elftes Stück).

Und dann das Konfetti: Auch Stone Sour haben sich ja damit probiert – beim Stuttgarter Auftritt gar als der große Knalleffekt am Ende der Show. Rammstein dagegen ballern allein bei „Amerika“ (17. Stück) fünf Mal so viel ins Publikum. Weniger geht nicht. Auch sind es keine weißen Fetzen, sondern rot Glitzerndes. Man produziert Dampfwolken zu „Asche zu Asche“ (fünftes Stück) oder nutzt Rauchwerfer während „Keine Lust“ (drittes Stück).

Dann aber wird es brenzlig: Ein bisschen Funkenregen über der Bühne zu „Mutter“ (siebtes Stück) und deutlich mehr zu „Ich will“ (18. Stück); ein paar Raketen, die aufsteigen zu „Wollt ihr das Bett in Flammen sehen“ (zweites Stück) oder – effektvoller noch –, die zu „Du hast“ quer durch die Halle fliegen und in einen Kasten einschlagen, von wo aus sofort neue zurück zur Bühne schnellen. Es rumst und brennt: So steht bei „Sehnsucht“ (viertes Stück) der Bühnenrand in grünen Flammen, bei „Asche zu Asche“ die Mikrophonständer und bei „Du riechst so gut“ (neuntes Stück) die Gitarren, die anschließend in Richtung Publikum entsorgt werden. Das bengalische Feuer, das Till bei „Mein Herz brennt“ in der Hand hält, nimmt sich dagegen nachgerade putzig aus.

Wer schon mal In Flames live gesehen hat, weiß, dass auch die gerne zündeln und ihrem Namen alle Ehre machen – wenn es auch nicht immer klappt. Aber Rammstein hat sich eben schon früh einen Namen mit ihrer Pyromanie gemacht, deren Meisterschaft sie sich von den Schweden nicht streitig machen lassen. Zwar steht Till nie in Flammen, aber er sprüht schon mal Funken aus den Armen und steht in einem Kreis aus Feuerstößen wie bei „Wollt ihr das Bett in Flammen sehen“, hat riesige stählerne Engelsflügel, an deren Enden Flammenwerfer speien und die schließlich ganz von aberdutzenden kleiner Explosionen überzogen werden bei „Engel“ (19. Stück und erstes der zweiten Zugabe) oder schnallt sich und den Gitarristen Flammenwerfer vor die Gesichter, mit denen sie dann die Bühne einheizen („Feuer frei!“, sechstes Stück). So nah trauen sich andere Bands nicht ans Feuer dran.

Glorreiches Highlight ist es dann, als Till eine riesige Gulaschkanone auf die Bühne schiebt, um eine Alice Cooper-artige Mordszene zu inszenieren, zu welcher er ein riesiges Messer bei sich trägt, dessen Griff zugleich Mikrophon ist. Gut geeignet für „Mein Teil“ (achtes Stück). In der Feldküche brutzelt, wie sich herausstellt, Flake. Und nachdem dieser vom Topf aus erst noch munter auf einem Keyboard mitgespielt hat, heizt ihm Till mit einem Flammenwerfer ordentlich ein. Doch das nützt nichts: Der Widerporst will nicht sterben, weshalb ein deutlich größerer Flammenwerfer herhalten muss, dessen Stoß nicht nur die linke Bühnenhälfte entzündet, sondern auch mit mehreren Explosionen gepaart wird. Die Hitze ist noch durch die halbe Halle deutlich zu spüren.

Abgesehen von diesen gibt es noch andere Feuerfontänen en masse, am dringlichsten beim Opener „Sonne“, wo man natürlich noch um die Sympathien des Publikums wirbt. Da wechseln sich vorne acht und hinten vier Flammenwerfer in kürzer werdendem Wechsel ab. Dick aufgetragen, muss man sagen. Rammstein lassen alles anbrennen. Gut, natürlich können sie mit dem Budget nicht mithalten, das eine Band wie Metallica allein für das Intro von „One“ verfeuert – beispielsweise in Gelsenkirchen. Aber die machen das eben (in der Regel) nur bei dem einen Song.

Nach dem ganzen Feuerwerk und der Technik bildet es den richtigen Kehraus, wenn Till zum 20. und letzten Stück „Reise Reise“ das Publikum vorne noch mit einer Schaumkanone einseift.

In der Summe gibt es nur sehr wenige Bands, die bei diesem Technikaufgebot mithalten können, für das immerhin elf Sattelzüge vonnöten sind. Rush fällt einem da ein, mit ihrer gigantischen Lightshow, ihren einspielten Kurzfilmen und den ganzen Projektionen des Bühnengeschehens. Aber mal ehrlich und bei allen Sympathien: Rammstein machen da schon mehr. Und auch wenn Metallica auf originell geformten Bühnensonderanfertigungen gespielt und auch die Fantastischen Vier sich mitten ins Publikum vorgewagt haben, ist an dem Trick mit der Brücke und der kleinen Plattform doch etwas mehr dran: Beim Intro zu „Bück dich“ (13. Stück) treibt Christoph Schneider in Kittelschürze und mit Perücke den Rest der Band auf allen Vieren hinüber, wo sie dann – nach Entfernen der Brücke wie in einem Club auf einer Minibühne – außer diesem Stück noch „Ohne dich“ spielen. Hier kann Till dann auch wieder seinen Plastikpenis auspacken und ins Publikum spritzen. Ob Morrison da neidisch würde? Obszönitäten hin oder her: Der Abend hat sich gelohnt. In der Summe also fällt mir nur eine Band ein, die ich live oder im Live-Mitschnitt gesehen habe, die Rammstein was Showeffekte angeht ohne Probleme in die Tasche stecken kann: Und das ist natürlich Pink Floyd.

Und die Musik? Die wird heute zur Nebensache, zum schmückenden Beiwerk. Wenn sonst die Liveshow mit Licht und Effekten inszeniert wird, damit die Musik gut ankommt, ist sie hier nur noch der Soundtrack zwischen all dem unterhaltsamen Augenzucker. Sie ist nur noch Taktgeber für die begeistert mitgesungenen Texte. Wozu braucht Rammstein auch einen Sänger? Sie haben 13.000. Keinen von denen wird jetzt noch der Kartenpreis reuen. Am Ende erscheint es dann ganz richtig, dass heute eine Textzeile bei „Amerika“ weggelassen wurde: „This is not a love song.“ Für die Leute da draußen ist es genau das.

3 Gedanken zu „RAMMSTEIN, 10.12.2011, Schleyerhalle, Stuttgart

  • 12. Dezember 2011 um 21:14 Uhr
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    Habe Rammstein damals [1996?] noch als Vorgruppe von Project Pitchfork gesehen, das war [glaube ich] in der Röhre. Rammstein hatten damals nur das Debutalbum und spielten jeden Song [gab ja nüscht mehr], Till ruderte zu „Seemann“ über das Publikum und stahl Pitchfork die Show…

  • 12. Dezember 2011 um 21:51 Uhr
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    Man kann gegen Rammstein viel ins Feld führen: aber sie sind einfach konsequent in ihrem Stil. Wie auch der Artikel. Nachdem jeder der Ahnung hat ihre Musik kennt, mag man’s mögen oder nicht, kann man sich auch mal allein auf diese unglaubliche Optik konzentrieren. Rammstein, das ist ein brennendes Stahlwerk….

  • 8. Juni 2012 um 11:19 Uhr
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    ich selbst war auf dem konzert in der ersten reihe natürlich. dafür stand ich auch mit konzert 12 stunden an. gelungener artikel nur das mit der schaumkanone war nicht bei reise reise sondern bei pussy!!!

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