SWALLOW THE SUN, SÓLSTAFIR, MAR DE GRISES, 22.12.2010, Haus 11, Stuttgart

22. Dezember, Vorweihnachten, Post-Vierter-Advent, die Innenstadt quillt über, die Autofahrer zeigen schon deutliche Stress-Aggression, das Geschenkestapel-Ist bleibt noch hinter dem Einkaufslisten-Soll zurück, und dann will das alles noch verpackt sein … Fraglich, wo man sich diesem Konsumterror effektiv entziehen kann. Aber immerhin hat der Mensch nicht nur den Konsumterror, sondern auch den Post-Metal erfunden, und genau dieser Notausgang steht heute Abend ins Haus 11 offen.

MAR DE GRISES

Foto: Mar de Grises (promo)

Die Chilenen Mar de Grises (spanisch, wörtlich „Meer der Grautöne“, sinngemäß wohl „Meer der Trauer“) eröffnen den Abend mit ihrem langsamen, verträumten Post Death Doom Metal. Die Musik ist ruhig, strömend und abwechslungsreich – auch in den Death-igsten Passagen – kommt dabei aber immer wieder auf melodiöse Töne und Klargesang zurück. Vor allem den mit progressiven Anklängen spielenden Schlagzeuger Alejandro Arce muss man da hervorheben.

Während des vorletzten Songs des Auftritts werden wir dann noch Zeuge einer alten Tour-Sitte, die darin besteht, sich während des letzten Auftritts vor der Heimreise gegenseitig Streiche zu spielen. Deshalb erscheinen plötzlich zwei Mitglieder von Sólstafir auf der Bühne, die mit Baströckchen bekleidet sind. Sie binden dem Sänger und Keyboarder Juan Escobar ein ebensolches Röckchen um und rollen sein T-Shirt hoch bis unter die Achseln, während er gerade – nun sichtlich bemüht – eine besonders elegische Death Vocals-Passage über einer verspielten Keyboard-Melodie singt. Den Rest des Songs stehen sie wie Hula-Mädchen vor dem Schlagzeug und versuchen sich in Hinternwackeln und Armwedeln. Nicht schlecht, auch so als Weihnachtsgeschenk, falls einem noch etwas fehlt: kostet nur 6,99 €.

SÓLSTAFIR

Foto: Sólstafir (promo von Guðmundur Óli Pálmason)

Als die Jungs von Sólstafir (isländisch für „Strahlenbüschel“) wieder auf die Bühne kommen, hat sich ihr Outfit jedoch deutlich verändert. Der struppige, leicht verfilzte Sänger Aðalbjörn „Addi“ Tryggvason zum Beispiel, der zuvor nicht mit auf der Bühne gewesen war, trägt zum Vollbart schwarzes Hemd mit Lederweste und einen Gürtel mit Ketten und Ösen von dem hinten irgendein seltsamer Fetzen fast bis zum Boden herabhängt. Das sieht ein bisschen so aus, als wäre er aus seinem Heimatland Island durch einen Italowestern hierher geritten.

Musikalisch klingen Sólstafir aber gar nicht nach Ennio Morricone, sondern spielen Post-Black Metal – also Black Metal von dem das Schwarz weggepostet wurde. Als „Antichristian Icelandic Heathen Bastards“ bezeichnen sie sich und wünschen uns nicht fröhliche Weihnachten, sondern „a happy winter solstice celebration“. Schon daher sind sie ein gutes Gegenprogramm zu dem Terror, der uns draußen vor der Tür erwartet. Dementsprechend ist der Raum auch proppenvoll – alle Leute, die ich hier kenne, sind in der Tat wegen der Isländer da. Sólstafir bieten aber noch in einer anderen Hinsicht Abwechslung zum Weihnachtsrummel, denn ihre Songs sind gegenüber Mar de Grises atmosphärischer, manchmal langsamer, meist schneller. Sie sind schwermütig, sehnsuchtsvoll. In der Regel entspricht der heisere Gesang genau diesem Charakter. Gelegentlich weicht Addi aus, faucht mit leicht grungig brechender Stimme.

Selbst was als Uptempo-Nummer beginnt, hat sich irgendwann ins Spacige fortgeträumt, um dann unvermittelt wieder fast Black Metal-mäßig auszubrechen. Das ist zum Beispiel bei „Köld“ der Fall, das in seiner Mittelpassage gerade noch aus einzelnen Gitarrentönen besteht, welche Guðmundur Óli Pálmason mit leichtem Antippen der Becken und des Hi-Hat irgendwo unter 60 bpm begleitet. Der Gesang verfällt dabei fast in ein Thom Yorke-Genuschel. Dabei werden Sólstafir nie seicht oder milde – wenngleich sie für diejenigen, die Black Metal nicht mögen, sicherlich zugänglicher sein dürften als Wolves in the Throne Room vor einem Monat – und ganz in diesem Sinne fragt uns Addi auch, ob wir lieber „romantic lovesongs“ oder „Heavy Metal“ hören wollen. „Heavy Metal it is“, hält er fest und posed anschließend mit seiner Flying V bei einem Song, den ich jetzt in der Retrospektive für „Love is the Devil (and I am in Love)“ halte. Jedenfalls verkündeter er danach: „I love heavy metal and I love having my heart broken.“

Schließlich endet der Auftritt mit “Goddess of the Ages” schon viel zu früh, wie auch der Rest des Saales meint. Aber eine Zugabe ist trotz anhaltenden Gejohles nicht zu bekommen. Schade, aber dann wünsche ich mir zu Weihnachten halt noch eine Sólstafir-Tour.

SWALLOW THE SUN

Foto: Swallow the Sun (promo)

Demgegenüber können Swallow the Sun wohl nur verlieren. Ich habe es ja eigentlich nicht geglaubt, als mir angekündigt worden ist, die Band sei nicht gut. Wie gesagt: Alle Leute, die ich hier kenne, sind wegen Sólstafir gekommen. Es liegt sicherlich auch an dem Eindruck, den die Isländer bei mir hinterlassen haben, dass die Finnen nicht so gut wegkommen. Allerdings nicht nur.

Das Ganze beginnt zunächst einmal mit einer ganz interessanten Beobachtung. Denn tatsächlich wird der Saal nach der Umbaupause nicht mehr voll. Es gehen so viele Leute nach Sólstafir, dass wir uns nachher fragen, warum Swallow the Sun eigentlich Headliner waren. Aber das erklärt sich natürlich aus der Tatsache, dass letztere auf dem Consumer-Markt erfolgreicher sind – zumindest in ihrem Heimatland tummeln sie sich regelmäßig in den Charts; hierzulande laufen sie eigenen Angaben zufolge mit „Don’t Fall Asleep (Horror Pt. 2)“ auf MTV „or shit like that“. Abgesehen davon, dass es weniger Publikum wird, verändert sich aber vor allem die Zusammensetzung des Publikums deutlich: Erstens halbiert sich der Altersdurchschnitt. Zweitens bildet sich plötzlich vorne ein Pit. Da wird die Pommesgabel hoch gehalten und auf den ersten fünf oder sechs Metern gemoscht, was hinten in das Kopfnicken übergeht, das man zuvor eigentlich ausschließlich gesehen hat.

Musikalisch sind Swallow the Sun mit ihrer Death Doom-Melodic Death-Schnittmenge tausendmal eingängiger als die beiden Vorbands, welche in dieser Hinsicht ein eigentlich ganz einheitliches Bild abgegeben haben. Die Band spielt sehr griffige Riffs, lässt sich in den Songs dabei aber wenig Freiraum für sich entwickelnde Strukturen. Das Ergebnis ist zwar sehr abwechslungsreich, fällt dafür aber stilistisch auseinander. Was mir zu glatt und vor allem zu langweilig ist, kommt bei den Fans vor der Bühne jedoch gut an, die teilweise abgehen wie Schnitzel. Für die geht es offensichtlich jetzt erst los, während sich die musikalische Altvorderengeneration schon zurückgezogen hat.

Bei „Falling World“, „These Hours of Despair“ und „Plague of Butterflies“ fühle ich mich schon wieder an den Weihnachtsrummel und Saturn oder Media Markt oder so erinnert. Lediglich „Out of This Gloomy Light“ spricht mich an. Nein, die Flucht vor dem Vorweihnachtsterror scheint vorzeitig beendet, und ich ziehe mich an die Bar zurück. Immerhin der nicht-kommerzielle Anlass für Weihnachten aber bleibt ganz außen vor, wenn Sänger Mikko Kotamäki uns abschließend zuruft: „Hail Satan, thank you!“

Ein Gedanke zu „SWALLOW THE SUN, SÓLSTAFIR, MAR DE GRISES, 22.12.2010, Haus 11, Stuttgart

  • 25. Dezember 2010 um 10:37 Uhr
    Permalink

    Ho ho ho!

    Ich geb‘ ja gerne zu, dass ich mit meiner Weihnachtswettervoraussage im Golden Gate Quartet konzertbericht voll daneben lag – zur Strafe muss ich heute Schnee schippen.
    Aber beim Themenblock Weihnachten, da bin ich der Ansicht, dass die, die sich stressen, sich halt leider stressen lassen.
    Jeder kriegt das Weihnachten, das er verdient hat!

    Grüße von der Wolke!

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