DEICHKIND, 07.12.2009, Schleyerhalle, Stuttgart

DEICHKIND, SCHLEYER-HALLE

Foto: Svenja Eckert

Fangen wir mit dem Schluss an: nach Deichkinds dreimaliger Frage „Wollt Ihr mit uns ans Limit gehen?“ (überraschendes „Jaaaaaaa“) spielen diese Wahnsinnigen „No Limits“ von 2 Unlimited. Das macht mich doppelt fertig. Erstens, weil es perfekt passt und geradezu zwingend das Ende dieser Show sein muss, und zweitens, weil dieser Song 1993 bei meiner ersten Asienreise aus jeder Nudelsuppenküche blubberte und gefühlte 666 mal in meinen Ohren klingelte.

Deichkind in der Schleyerhalle, das ist mal ja mal eine Ansage. Nach den zur Legende gewordenen grammyprämierten Vorgängerkonzerten in Stuttgart im Rocker33 und Theaterhaus lässt allein schon die Venue-Wahl zucken. Ganz voll wird es nicht (gute 3000?) in der abgehängten Halle, aber dafür haben die Deichkinder richtig Platz auf der Bühne. Und, meinen Damen und Herren, darum geht es hier neben den Technobeats: Austoben, im selbst gemachten Musiktheater. Nach einem angenehm verstörendem Einlassvideo und einem Strobo-Schattenspielintro geht es los mit „Arbeit Nervt“. Die Tech-Rap-Arbeiter tragen leuchtende Pyramiden als Helme und performen Metropololis-artig vor einem Raumschiff, das von einem runden Stargate-Tor (haben sie Emmerich abgeschwatzt) gekrönt ist. Schön monoton-stumpfer Beat mit einem Heidendruck lässt das vorwiegend junge, vereinzelt deichkindlich-kostümierte und in Teilen spürbar ethanolgetränkte Publikum sicherheitshalber gleich mal zu Beginn ausrasten. Das beeindruckt mich nachhaltig, so dass meine Assoziation mit Krupps´ „Wahre Arbeit, wahrer Lohn“ spätestens bei Deichkinds-Textzeile „Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht des Versagers“ zu keinem brauchbaren Ergebnis kommt. Schwarzlicht, Figurenspiel (das Schlau-Wort für Puppenspiel), mikrofongepimpte Damenräder, Tennisschiristühle, Trampoline, Schlauchboote, (Gummi-)Puppen, selbst gebastelte Plastiktüten-Kostüme, neonfarbene Masken und der immer wiederkehrende stumme Schamane, der mit einem totenkopfbesetzten Stab die tribalisierte Meute anheizt (Afrika Bambaataa aus der Hafenstraße?) sind nur einige Versatzstücke dieser wahrhaft verrückten Show. Die Kinder vom Deich – Krytik Joe, Sir Sorbet, La Perla aka Actionboy, Amiga 500 Dürre SL, Ferris Hilton und Strichi & Zitz um einmal alle zu nennen – sprechsingen zu den sehr phatten Beats und Bässen, ganz ohne Instrumentalmusiker. Das irritiert mich etwas auf Dauer, es wird dadurch dann doch etwas zu monoton. Auch wenn die Breaks in den Songs – die so plötzlich kommen, als hätte sich Lino auf die Fernbedienung gesetzt und in eine Best-Direct-Werbung auf Kabel1 gezappt – mit Kraftwerks „Computerliebe“ oder dem Fake-Holly Johnson von Frankie Goes To Hollywood, der im Anzug den Refrain von „The Power Of Love“ singt, großartig sind.

DEICHKIND, SCHLEYER-HALLE

Foto: Svenja Eckert

„Deichkind 3.0“ heißt die Tour, sie soll vorerst die letzte sein… Spannen wir einen Zukunftsbogen, was wird das neue Jahrzehnt bringen: die Zusammenführung der Technologie des Semantischen Webs (Verwertung der Bedeutung von Informationen) mit den sozialen Ansätzen des Webs, das so genannte „Web 3.0“. Zur ausgehenden Dekade sind Deichkind jetzt schon 3.0 auf ihre Art: Sie verquicken HipHop, Techno, Punk, DoItYourself, Dadaismus, The Residents, Cirque De Solei, Michael Jackson, Justice, Kampfstern Galactica, Namentanzen nach Rudolf Steiner, binden ihr begeistertes Publikum mit ein und geben all dem die Bedeutung „Habt Spaß mit uns“. Und das kriegen die hin! Beim Refrain „All die Probleme der Erde liegen für uns in weiter Ferne… schwerelos“ sind wir dann allerdings doch nah am Schlager.
Als Zugaben nach 90 Minuten werden neben Hüpfburgen und Protagonisten an Bungeeseilen das heißersehnte „Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)“ und „No Limits“ gezündet – die Massen tanzen und mir klingelt es in den Ohren. Die müssen verrückt sein, die Deichkinder.

21 Gedanken zu „DEICHKIND, 07.12.2009, Schleyerhalle, Stuttgart

  • 8. Dezember 2009 um 09:52 Uhr
    Permalink

    „Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht des Versagers“ ist glaub mein Lieblingsaphorismus von Überdandy O. Wilde.

  • 8. Dezember 2009 um 10:19 Uhr
    Permalink

    Ahoi Bertram, ist Dir bekannt, dass vor den R33/Theatherhausauftritten eine (wahnsinns)-Show im knallvollen Schocken stattgefunden hat? Mir fehlt leider das Jahr (Ethanol), ich weiß aber noch genau, dass es 5 Taler Eintritt gekostet hat. Damals auch schon Pyramiden, aber noch deutlich mehr D.i.Y. . 2Unlimited war auch schon im Gepäck.
    Neu ist mir das von Dead Kenneyds geklaute „DK-Logo“, (siehe Bilder) passen tut’s ja, nur wenn das deren Anwalt sieht, dann muß wohl doch bis zur Rente der verhassen Arbeit nachgegangen werden…

    Kudos
    T.

  • 8. Dezember 2009 um 10:27 Uhr
    Permalink

    Von dem Schockenkonzert hatte bereits Vulcano geschwärmt. DK-Logo (besser: Rune) ist mir auch aufgefallen; wie ich versuchte anzudeuten: die Show und die Musik sind ein Sandstrand aus Verweisen, Diebstählen und Aufbereitungen. Der totale Postmodernismus am Ende der Nullerjahre.

  • 8. Dezember 2009 um 10:51 Uhr
    Permalink

    Auf dem Melt! gab es ja auch diesen legendären Auftritt: Deichkind bitten das gesamte Publikum auf die Bühne, bis sie fast einstürzt. Zur Strafe mussten sie dann im nächsten Jahr nochmal spielen, morgens um 5, vor komplett gefüllter main stage Arena. Neben mir der betrunkene Stadlober…
    Dennoch: ist es nicht immer wieder der gleiche Zirkus? 1.0, 2.0, 3.0 macht mich agressiv…

  • 8. Dezember 2009 um 11:00 Uhr
    Permalink

    mich bringts zum gnadenlosen rumstänkern und polemisieren!

  • 8. Dezember 2009 um 12:15 Uhr
    Permalink

    Die waren mal im Schocken?! Ach du kacke! Das ist ja der Wahnsinn!
    Zu gestern: Das war einfach knapp 2 Stunden non stop Party. Ich war wirklich erschöpft zwischendrin. Man wird ja nicht jünger, ne? (ha ha)
    Und ich sag nur Bloc Party Sample. <3

  • 8. Dezember 2009 um 12:39 Uhr
    Permalink

    Großartige Videos, Regine (besonders das erste)!! Unfassbar. Deichkind ist ja bisher an mir völlig vorbeigegangen. Und super Bericht, Bertram. Tipptopp. „Remmi Demmi“ spiel mer in Zukunft zu jeder vollen Stunde, Anja oder? hihi

  • 8. Dezember 2009 um 12:54 Uhr
    Permalink

    Cathrin, unbedingt im Wechsel mit Song 2.
    Kann mir jemand der jungen Leser bitte erklaeren, woher dieses interesse an Party-Musik kommt?

  • 8. Dezember 2009 um 13:10 Uhr
    Permalink

    @Anja, die Frage war zielgruppentechnisch jetzt an mich gerichtet, gell? Also…
    Aber Remmidemmi und so, da sind wir ja eigentlich wieder bei our guilty pleasures

  • 8. Dezember 2009 um 13:30 Uhr
    Permalink

    ja die waren mal im schocken. ganz zu beginn ihres zweiten frühlings.

    war die gig-blog crew eigentlich die ältesten im publikum?

  • 8. Dezember 2009 um 13:35 Uhr
    Permalink

    …Schocken war 2005, die Show hat sich seitdem eigentlich kaum verändert.

  • 8. Dezember 2009 um 13:36 Uhr
    Permalink

    @ram: nö, die Svenja war ja dabei. Hüstel.

  • Pingback: Die Party des Jahres « Excellent Choice

  • 8. Dezember 2009 um 13:42 Uhr
    Permalink

    also wenn ich mit meinen vollen 30 jetzt nicht schon offiziell zum alten eisen gehöre, weiß ich ja auch nicht!!! aber der herr woog war auch da und hat sich in unsere privat-ü-30-party eingereiht!

  • 8. Dezember 2009 um 21:14 Uhr
    Permalink

    @Toxic Schocken war am 01.04.05, muß wohl mit der erste Gig im neuen Live-Gewand gewesen sein.

  • 8. Dezember 2009 um 22:58 Uhr
    Permalink

    Ich war auch da, ach, es war einfach ….. eine Party ! Ich bin begeistert und tot :D

    Aber, um das fachkundige Publikum hier mal zu fragen:
    Weiß jemand wie das vorletzte oder letzte Lied, dass vor dem verstörenden Selbst-Viedeo von Deichkind kam, heißt ? Es war so schwarz weiß, tanzbar, clubgeeignet, geil ??

  • 8. Dezember 2009 um 23:47 Uhr
    Permalink

    @Jones: Ok, danke für die Stütze, es kommt mir vor, als läge das schon viel länger zurück.

  • 9. Dezember 2009 um 09:54 Uhr
    Permalink

    @jones: im schocken damals trugen die hellblaue müllsäcke, wenn ich mich recht entsinne.

  • 9. Dezember 2009 um 11:08 Uhr
    Permalink

    Hallo Michl, Müllsäcke waren es ganz sicher, Farbe könnte auch schwarz gewesen sein. Wir 2 wissen halt was Sache ist und sind schon vor dem Mega-Hype dabei.
    Poste Dir Vinyl-Leckerei auf Myspace.
    Gruß, T.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.